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daslesendesatzzeichen

Posted on 9.2.2020

Was ist hier denn passiert? Es ist zappenduster, und Stan ist ohne Ollie mittendrin in dieser unendlichen Dunkelheit. Er fühlt sich unwohl, so alleine, auf sich gestellt, er hat Angst. Wenn er sich bewegt, wird es besser. Also läuft er los. Stanley merkt, dass es eine Wand gibt. Immerhin! Wo eine Wand ist, gibt es mit großer Sicherheit noch eine. Er findet sie. Und eine Decke. Stanley Laurel erkennt: Er befindet sich in einem rabenschwarzen Tunnel. Die Stille, oh weh! Stanley kann mit ihr nicht umgehen. Sie zwingt ihn, seine Konzentration nach innen zu richten, er versinkt beim Laufen in Erinnerungen. An früher. Ans Filmen mit Ollie. Das beruhigt. Und dann stolpert Stanley. Zu seinem großen Entzücken ist das Ding, über das er stolpert, ein Mensch. Ein sehr dicker Mensch, wie Stanley ertastet. Ollie?? Doch der andere ist nicht nur sehr dick, er ist auch sehr ruhig. Er sagt ziemlich lange nichts. Und Stanley ahnt, dass das nicht Ollie ist. Er wird von einer Erinnerungswelle an seinen früheren Filmpartner hinweggespült, überlässt sich ihr, doch dann spricht der andere. Nur ein Wort, aber nun hat Stanley Gewissheit, dass es nicht Ollie ist. Die Tunnelstimme ist tiefer. Gemeinsam gehen sie weiter. Sie reden. Und nach und nach erfährt Stanley, wer der Mann ist, mit dem er in der absoluten Finesternis zusammengetroffen ist: Thomas von Aquin. Markus Orths bedient sich eines ganz besonderen Kunstgriffs in seinem neuesten Roman „Picknick im Dunkeln“: Er lässt seine Protagonisten an einem Ort ohne jegliche Ablenkung von außen aufeinandertreffen, umringt von Finsternis. Was passiert, wenn ein Sinnesorgan ausgeschalten wird? Die anderen schärfen sich. Und so hat man das Gefühl, dass sich bei Stanley auch der Verstand schärft. Er wird wacher, schneller, aufmerksamer. Er, der nie die Zeit hatte, seinen Intellekt zu stählen, wird durch sein Gegenüber herausgefordert, gedanklich große Sprünge zu machen. Denn er hat einen philosophischen Vordenker an seiner Seite, einen der klügsten Köpfe der Menschheit. Stanley kann dieser Situation nicht entfliehen, er muss sich ihr stellen. Doch wie abstrus ist das? Wie kann es sein, dass der gelehrte Mönch Thomas von Aquin und der Komiker Stanley Laurel gleichzeitig an einem Ort sind? Es liegen 700 Jahre zwischen ihnen. Für Stanley ist klar: Thomas ist tot, daran ist nicht zu rütteln – doch als Thomas dann konsequenterweise beschließt, dass die einzige sinnvolle Erklärung für ihr Zusammentreffen nur die sein kann, dass auch Stanley tot ist, bekommt Stanley im wahrsten Sinne des Wortes Todesangst. Kann es sein? Sie laufen weiter, Stanley will das Ende des Tunnels finden. Wo ein Ende ist, muss Licht sein, etwas anderes sein. Doch immer mehr wird klar, der Weg wird hier das Ziel. Sie reden, besprechen, versuchen, sich Klarheit über die Situation zu verschaffen. Dabei erzählen sie einander viel von sich, und somit bekommt der Leser ganz spielerisch eine Flut an Informationen über die beiden berühmten Männer. Doch warum ausgerechnet sie beide? Hier? Was haben sie gemeinsam – oder ist es eher richtig zu fragen: Was unterscheidet sie voneinander? Die beiden vertrauen sich im Schutz der Dunkelheit Dinge an, die sie im Hellen keiner Menschenseele erzählt hätten. Ein Band der Zusammengehörigkeit wächst zwischen ihnen. Respekt. Über den jeweils fremden Anderen lernen sie sich selbst besser und neu kennen. Orths benutzt dabei durchgehend einen sehr einfachen Sprachduktus. Thomas ist der Kluge, Stanley, ganz wie sein Alter Ego Stan aus den legendären Schwarzweißfilmen, der gedanklich etwas Behäbigere. Er fragt nach, wenn Thomas zu intellektuell wird, sich in geistige Sphären begibt, zu denen kaum einer aufschließen kann. So zwingt er den alten Gelehrten, sich schlichter zu erklären – und so darf der Leser erleichtert aufatmen, denn Stanley übernimmt die Rolle des fragenden Kindes. Und dieser Eindruck des Kindlichen zieht sich durch das gesamte Buch. Orths ist auch Kinderbuchautor, vielleicht liegt es daran, dass er es simpel hält. Es ist ein ganz eigener Stil, der es auch der jugendlichen Leserschaft ermöglichen wird, einen Zugang zu diesem Roman zu bekommen. An keiner Stelle muss der Leser beschämt innehalten, um sich einzugestehen, dass er keine Ahnung hat – Stanley fragt sich durch den Tunnel und wir lernen mit. Ein besonderer Roman, sprachlich schlicht, wenig raffiniert, aber schön in seiner Schlichtheit. Es ist ein Buch für den Moment, das Mehr an Wissen, das man durchs Lesen erhält, bleibt, ein wenig Melancholie auch. Doch dann hat man schließlich die letzte Seite gelesen und, um es mit einem Zitat aus dem Buch zu sagen: Da war Schluss. Einfach so. Kante. Aus.

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