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renee

Posted on 7.2.2020

Intensive Verwirrungen "Vater unser" von Angela Lehner ist jetzt das dritte Buch der Longlist des Deutschen Buchpreises 2019, welches mir vor die Augen kam. Und es lässt mich vollkommen begeistert zurück und steht für meine Begriffe vollkommen zu Recht auf dieser Liste. Was haben wir hier? "Vater unser" ist der Blick auf eine junge Frau und ihre Familie. Diese junge Frau, Eva Gruber, wird in die Psychiatrie gebracht, sie bezichtigt sich selbst eine Kindergartenklasse umgebracht zu haben. Hat sie nur nicht. Dies sieht man auch daran, dass Eva auf keine forensische Station gebracht wird. Eigentlich will sie meines Erachtens nur dahin, um ihrem Bruder nahe zu sein. Ihr wird eine narzisstische Persönlichkeitsstörung diagnostiziert. Aber passt dies zusammen, eine narzisstische Persönlichkeitsstörung und der Drang, dem Bruder nahe zu sein, dem Bruder zu helfen? Wobei aber das, was uns die Protagonistin hier so erzählt, nicht immer der Wahrheit entsprechen muss, ich aber schon einen gewissen Leidensdruck auf Seiten der Eva erkennen kann. Ihr Bruder Bernhard ist in der Psychiatrie, weil er Essstörungen hat. Eva beschreibt, dass beide Kinder vom Vater sexuell missbraucht wurden. Die Essstörung und das Trauma als Ursache könnte passen. Könnte?!?! Gleichzeitig kommen aber auch andere schwierige familiäre Konstellationen und gegenseitige Verletzungen zum Vorschein. Wobei man sich aber immer wieder auch fragt, ist das jetzt wahr? Dabei ist das Beschreiben von Evas Leben geprägt von fast traumhaft/alptraumhaft anmutenden Sequenzen von einer äußerst eindringlichen Intensität, die einen immensen Sog erzeugen. Durch immer wieder sich gegenseitig widersprechende Informationen ist man beim Lesen verwirrt, sucht nach einer Wahrheit. Dabei besitzt die Erzählerin auch deutlich manipulative Züge, die sie meisterhaft einsetzt, aber dadurch auch gleichzeitig ein negatives Bild von sich erzeugt und beim Leser die Frage: Warum?. Herrlich sind die Gespräche zwischen dem Psychiater Dr. Korb und der Patientin Eva, einerseits bieten sie gewisse Einblicke in psychiatrisches Geschehen, andererseits sind sie von einem umwerfenden Humor gekennzeichnet, zeigen aber auch deutlich die Interaktionen zu denen Eva fähig ist und sie machen ungeheuer Spaß, auch wenn es manchmal ein etwas schmerzhafter Spaß ist. Die Sprache der Angela Lehner ist generell von einem interessanten Mix aus Spannung, Drama und Humor getragen, wobei ihr Humor aber auch manchmal sehr schmerzhaft und boshaft ist. Insgesamt betrachtet ist dieses Buch ein äußerst intensives Verwirrspiel, welches absolut fesselt, aber als einen kleinen gewissen Nachteil auch wenig Auflösung mitbringt. Schade. Ich gebe eine unbedingte Leseempfehlung!

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