naraya
Victor ist in seinem zweiten Jahr am renommierten Lycee D. Er hat seine Eltern und sein Städtchen in der Provinz verlassen, um nach Paris zu gehen und Lehrer zu werden. Doch unter seinen Klassenkameraden ist er stets der Außenseiter geblieben; der, der nicht so recht zu den anderen passen will. Mathieu aus dem ersten Jahr scheint es ähnlich zu gehen, auch er hat seinen Platz noch nicht gefunden. Die beiden treffen sich fast täglich beim Rauchen - mal wechseln sie ein paar Worte über den Konkurrenzdruck, über ihre Ängste oder über ihr altes Leben, mal schweigen sie einfach nur gemeinsam. Victor fasst sogar den Gedanken, Mathieu einzuladen, seinen Geburtstag in ein paar Tagen mit ihm zu feiern. Doch dann passiert das nicht einmal Unerwartete, aber dennoch Undenkbare: Mathieu stürzt sich vor den Augen seiner Kommilitonen in den Tod und Victor bleibt, wieder einmal, allein zurück. Mathieus Suizid bringt das Leben am Lycee völlig durcheinander. Lehrer Clauzet, bekannt dafür, seine Studenten mit höhnischen Kommentaren zu quälen, gerät ins Kreuzfeuer, der Rektor in Zugzwang. Schnell werden alle für einige Zeit vom Unterricht befreit, um trauern zu können, aber Victor ist hin- und hergerissen. Eigentlich kannte er Mathieu zu wenig, um wirklich traurig zu sein; dennoch macht der Tod des Jungen ihn noch einsamer, als er sowieso schon ist. Dann beginnen auf einmal Victors Klassenkameraden Interesse an ihm zu finden, dem "Freund" von Mathieu. Und er, der er vorher beinahe unsichtbar war, wird nun zu Parties eingeladen und mehrere Personen buhlen um seine Freundschaft und mehr. Als noch Mathieus Vater auftaucht, auf der Suche nach Antworten, beginnt Victor sich mit diesem zu treffen. Immer mehr Zeit verbringen die beiden miteinander. Mathieus Vater schwelgt in jeder noch so kleinen Erinnerung an den verlorenen Sohn, während Victor sich vorstellt, wie es wäre, wenn er einen Vater wie diesen hätte. Einen, der versteht, was ihm Literatur und Wissen bedeuten. Dabei geraten beide immer tiefer in einen Strudel, der droht, sie in die Tiefe zu reißen. Es ist ein leiser Roman, den Blondel uns hier präsentiert. Abgesehen von dem großen Ereignis zu Beginn sind es eher viele kleine Vorkommnisse und Gespräche, die die Handlung vorantreiben. Sprachlich gekonnt, voller Bilder und Vergleiche wird hier erzählt, was Suizid mit denen macht, die zurückgelassen werden. Es geht um Einsamkeit, Wut, Selbstzweifel, aber auch um den Versuch, Lücken zu schließen. Sei es die Lücke, die ein geliebter Sohn hinterlässt oder, wie im Fall von Victor, diejenige von Eltern, die sich immer weiter von ihrem Sohn entfernen. Der Autor wagt es aber auch, ein Tabu zu brechen, nämlich im Zusammenhang von Suizid auch von Vorteilen, gar von Profit zu sprechen. Denn genau das ist es, was Victor tut, er profitiert. Mathieus Tod bringt ihm neue Freundschaften, Erfolg bei den Frauen und für eine gewisse Zeit lang auch einen Ersatzvater. Doch all dies treibt den jungen Mann nur noch mehr in die Einsamkeit. Es ist, als ob alle nur eine Vorstellung von ihm haben, die sie sich nach Belieben anpassen: der bemitleidenswerte, zurückgelassene Freund; der Sohn, den man gerne gehabt hätte - bei all dem bleibt eines auf der Strecke: Victor selbst, seine Wünsche, seine Zukunft. Nur er selbst kann sich aus diesen Verstrickungen befreien. Wird ihm das gelingen? Oder ist es schon lange zu spät? Fazit: ein Roman voller Wahrheit, Einsamkeit und Hoffnung zugleich