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naraya

Posted on 6.2.2020

Der 7. Januar 2015 ist der Tag, an dem sich das Leben für Philippe Lançon für immer verändern soll. Am Vorabend hat er sich noch gemeinsam mit Freunden Shakespeares "Was ihr wollt" im Theater angesehen. Am folgenden Morgen fährt er in die Redaktion von "Charlie Hebdo", diskutiert dort mit seinen Kollegen über Michel Houellebecqs neuen Skandalroman, über den jeder reden will, den aber zu Philippes Ärger nur die wenigsten gelesen haben. Und dann, mitten in dieser Diskussion, geschieht das Unfassbare: zwei bewaffnete Männer stürmen das Gebäude und töten insgesamt elf Menschen. Zwischen den Leichen seiner Weggefährten und Freunde liegt Philippe Lançon und obwohl sich die Lache seines eigenen Blutes bereits um ihn herum ausbreitet, fühlt er zunächst keine Schmerzen. Erst der Griff zu seinem Smartphone, in dessen Glas er das eigene Gesicht sieht, offenbart ihm das Unfassbare: von seiner Unterlippe abwärts klafft ein Loch in seinem Kiefer; er wird für immer entstellt sein. In "Der Fetzen" beschreibt der Autor schonungslos, aber nicht reißerisch seinen persönlichen Weg zurück ins Leben. In ein anderes, ein neues Leben, denn das alte ist unwiederbringlich verloren. Vor allem die umstrittenen Mohammed-Karikaturen und die Abwendung anderer satirischer Magazine von "Charlie Hebdo" haben die Mitarbeiter in den Fokus des Hasses gerückt und somit zur Zielscheibe gemacht. Konsequenz daraus war der Anschlag auf die Redaktion, welcher der ersten einer ganzen Serie sein sollte, die Frankreich im Jahr 2015 erschütterten. Besonders intensiv beschrieben ist im Roman die Szene, als Lançon nach dem Anschlag aufwacht und Kaffeeduft riecht. Verzweifelt versucht er sich an dem Gedanken festzuhalten, dass er sich in seinem eigenen Bett zuhause in seiner Pariser Wohnung befindet. Doch die Wahrheit bricht unerbittlich in seine Realität ein, bis er sich ihr nicht länger verschließen kann. Solche Passagen gibt es zuhauf in diesem Roman - sie machen betroffen, traurig, wütend und verletzlich. Man merkt sofort, dass Philippe Lançon Journalist und Schreiben sein Beruf ist. "Der Fetzen" ist keineswegs ein reiner Schicksalsbericht, sondern stark literarisiert. Bis er bei der Schilderung des eigentlichen Attentats angelangt, vergehen zahlreiche Seiten. Immer wieder schweift er ab, um über Shakespeare oder Houellebecq zu schwadronieren. "Der Fetzen", das ist übrigens ein Hautlappen, welcher Lançon in einer von 17 Operationen im Gesicht transplantiert wird, nachdem mit einem Stück Knochen des Wadenbeins das klaffende Loch in seinem Kiefer geschlossen wurde. Unser Autor bemüht sich, ein vorbildlicher Patient zu sein, immer selbst mithelfend, immer die eigenen Schmerzen verdeckend und immer zu einem netten Wort für das Personal aufgelegt. Über die nächsten Monate hinweg werden sie seine ganze Welt sein: die Polizisten, die zu seinem Schutz abgestellt sind, die zahlreichen Krankenschwestern, OP-Assistenten, Physio- und Psychotherapeuten und "seine" Chirurgin Chloe. Zu allen entwickelt er ein gutes Verhältnis, zu manchen sogar Freundschaften - umso größer ist Lançons Schock, als er im März auf einmal das Krankenhaus verlassen soll. Stets begleitet ihn außerdem die Angst, dass die Täter zurückkommen und ihr Werk vollenden werden. Selbst, als die Brüder Kouachi bereits erschossen wurden, kann er diesen quälenden Gedanken einfach nicht loslassen. Dieses Buch ist nur schwer in Worte zu fassen. Was klar ist, ist jedoch, dass mich selten ein Roman so beeindruckt hat, wie dieser. Die oben beschriebene Szene mit dem Kaffeeduft hat sich tief in mein Herz eingegraben, auch wenn das unfassbar kitschig klingen mag. Philippe Lançon verhält sich definitiv nicht, wie man es von ihm erwarten würde. Er hat nach wie vor keinen Hass auf die Islamisten, die ihm sein altes Leben genommen haben. Für ihn spielen sie keine Rolle, er will ihnen keinen Raum geben. Umso stärker berichtet er von all den kleinen und großen Dingen, die nun seinen Alltag im Krankenhaus ausmachen. Von seinen Eltern, die mit über 80 Jahren ihren Sohn wieder wie ein Kleinkind umsorgen müssen. Von seiner Fernbeziehung zu einer Freundin Gabriela, die völlig in den Hintergrund gerät. Von Freunden, denen er den Besuch bei ihm verbieten muss, weil sie selbst mehr Trost von ihm benötigen, als er für sich selbst übrigt hat. Und von seiner Abhängigkeit zu diesem Krankenhaus und seinem Personal, die dazu führt, dass er Panik bekommt, wenn er nur an die Entlassung denkt. Fazit: Wer "Der Fetzen" und Philippe Lançons persönliche Geschichte lesen will, muss sich zusätzlich durch zahlreiche literarische, philosophische, musikalische und generell künstlerische Exkurse kämpfen. Doch auch sie sind es, die diesen besonderen Roman ausmachen, der zwischen den journalistisch zurechtgelegten Worten so viel Emotion und Verletzlichkeit, Enttäuschung und Hoffnung zugleich enthält. Mein Highlight 2019.

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