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Bris Buchstoff

Posted on 5.2.2020

Landmarken „In den frühen Morgenstunden des 21. September 2007 verschüttete ich rund 200 ml Kaffee über meinem penetrant klingelnden Handy, das mich, von einer unterdrückten Nummer zutiefst erschüttert, so plötzlich zum Abheben aufforderte, dass ich keine Zeit hatte, die Tasse abzustellen“ Ruth, die gleich zu Beginn der Geschichte, die sie uns erzählt, einen Anruf erhält, der das Leben eines jeden Menschen auf den Kopf gestellt hätte, reißt dieses Telefonat sogar für mehrere Jahre sowohl aus Zeit, als auch aus Raum. Ihre Eltern sind bei einem Autounfall umgekommen. Sie waren – wie Ruth später feststellen wird – bei einem ihrer wöchentlichen Besuche in ihrem Heimatort Groß-Einland. Dort möchten sie auch bestattet werden. Ruth wusste weder von Groß-Einland, noch von den wöchentlichen Besuchen dort. Nach dem ersten Zusammenbruch, in einer solchen Situation ja nicht unüblich oder verwunderlich, erkennt Ruth aufgrund ihrer laufenden Dissertation, der zu haltenden Antrittsrede an der Uni und einer Kombination von verschreibungspflichtigen, regelmäßig von ihr eingenommenen Arzneimitteln, was schon alleine zu einem Zustand führen könnte, der einen aus der „normalen“ Welt „ver-rückt“, in der Organisation der Beerdigung in Groß-Einland einen Silberstreif am Horizont, der sie wieder in eine reale, greifbare Welt bringen soll. Doch weit gefehlt. Was für die meisten Menschen in einer solchen Situation ein Stück Normalität herstellt, wenn auch schmerzhafter Art, wird für Ruth zu einer Suche. Schon nach Groß-Einland zu kommen, ist nicht leicht, denn es ist auf keiner Karte Österreichs verzeichnet und damit potentiell überall zu verorten. Das Setting, das sich Raphaela Edelbauer für ihren sprachlich ungewöhnlichen und gerade deshalb so wunderbaren Roman ausgedacht hat, ist clever gewählt. Die Inhalte, die Botschaften, die sie transportieren will, sind allgemein gültig und zeitgemäß, vielschichtig und dermaßen auf die Metaebene gepackt, dass der Roman problemlos viele verschiedene Lesarten zulässt. Wer es lieber hat, einen genauen, vorgegebenen Lektüreweg einzuschlagen, der wird allerdings mit Edelbauers Fabulierkunst nicht ganz glücklich werden. Groß-Einland wird von einem riesigen, einem schwarzem, Loch bedroht, das inmitten des Dorfes existierend, alles aufzusaugen scheint und gegen das die Bewohner des Ortes doch nichts tun. Wobei das nicht ganz stimmt, denn sie nutzen das Loch dazu, Unerwünschtes, nicht mehr Gebrauchtes, Peinliches oder gar mit Verbrechen Zusammenhängendes darin zu versenken. Die oberflächliche Idylle – nur die Häuserfassaden sind noch leidlich intakt, dahinter findet sich das schiere Chaos – bröckelt. Viele jüngere Menschen, die in Groß-Einland leben, sprechen zwar häufig davon, die Stadt zu verlassen, doch tun sie es nie. Zunächst ist Ruth daran interessiert, herauszufinden, was hinter dieser merkwürdigen Heimat-Verbundenheit stehen mag, doch bald ist auch sie unentrinnbar eingebunden. So sehr, dass sie die eigentliche Recherche nach der Herkunft ihrer Eltern und damit nach der eigenen, nicht mehr so zielstrebig betreiben kann, wie sie möchte. Das liegt vor allem daran, dass sie der geheimnisvollen Gräfin, die den Ort zu regieren scheint, ins Auge gestochen ist. Die Gräfin bietet ihr – aufgrund von Ruths wissenschaftlichem Forschungsgebiet der Physik – eine Stelle an, die Miete und Auskommen in Groß-Einland mehr als ausgleicht. Ruth soll eine Möglichkeit finden, das Loch zu stabilisieren und damit den weiteren Verfall des Ortes aufhalten. Doch Raum und Zeit verschwimmen nach und nach während des Aufenthalts und Ruth bleibt länger in Groß-Einland, als es ihr bewusst wird. Als Raphaela Edelbauer 2018 beim Bachmannpreis einen Textausschnitt aus „Das flüssige Land“ las, zeigte sich ihre große Liebe zu sprachlicher und stilistischer Ästhetik sehr deutlich. Obwohl sie den Publikumspreis gewann, war für mich nicht ganz klar, ob dieses hohe Maß an Sprachgefühl und –gewalt einen Roman nicht vielleicht überfrachten könnte. Dennoch, oder eher genau deshalb interessierte mich die Ausarbeitung sehr. Einmal in die Hand genommen, war ich fasziniert. Da entstanden ungewöhnliche Bilder, Vergleiche und Metaphern, die wunderbar funktionierten, wodurch der Text unvorhersehbar, spannend und frisch blieb. Die bereits zuvor angesprochene Fähigkeit Edelbauers, allgemeine Beobachtungen auf die Metaebene zu packen und somit den Leser*innen die Möglichkeit zu geben, eigene Schlüsse zu ziehen, verstärkt das Leseerlebnis und lässt die Lektüre nachhaltig wirken. Ein weiterer Kniff, den sie bravourös einsetzt, ist die Bezugnahme auf die Mythologie und Spiritualität der australischen Aborigines, die wir im deutschen Sprachgebrauch nicht einmal annähernd passend mit „Traumzeit“ auszudrücken vermögen. Genau wie in diesem Konzept der Idee, dass unsere reale Gegenwart aus einem raum- und zeitlosen, universellen Schöpfungsprozess entsteht, und selbst diese Schöpfungsprozess oder diese Welt durch sogenannte Landmarken, die sich durch eben diese reale Gegenwart manifestieren, anfüllt oder bereichert, so gestaltet Edelbauer ihre Geschichte. Die wichtigste Landmarke im Roman ist das allesverschlingende Loch, das schon lange vor Ruths Erscheinen in Groß-Einland gebildet wurde und dessen Herkunft nicht so ganz erklärt wird. Offensichtlich einfach nicht geklärt werden soll. Der Riss, der die Gemeinde spaltet, entsteht nicht zufällig zwischen Kirche und Kulturverein und setzt sich beim Rathaus fort. Die Reparaturen, die die Groß-Einländer vornehmen, sind allesamt kosmetischer Natur. Wer an diesem Riss schuld ist, wird nicht so genau hinterfragt, doch gewisse Berufsgruppen, wie zum Beispiel Ärzte oder Anwälte, können daran keine Schuld haben, sind sie doch per se keine Randalierer und scheiden deshalb aus dem Kreis der Verdächtigen aus, während die Bauern dagegen in der Folge der Geschichte sehr wohl als schuldig an der allgemeinen Absenkung des Geländes bezichtigt werden. Bauen sie doch Pfahlwurzler an, die das ohnehin schon instabile und unterhöhlte Gelände noch brüchiger werden lassen. Diese Art der Schuldzuschreibung an gewissen gesellschaftlichen Vorgängen kennen wir all zu gut, Sündenböcke finden sich meist dort, wo aufgrund von Herkunft oder Klasse vermeintlich weniger Skrupel, gesellschaftsschädigende Verhaltensweisen an den Tag zu legen, bestehen. Während in Groß-Einland weiterhin die Geschehnisse der Vergangenheit relativiert und gedeckelt werden, entdeckt Ruth, die mittlerweile im Haus ihrer Eltern, von dem sie vor deren Tod nichts geahnt hatte, ein Geheimnis, das alles, was sie bisher über ihre Familiengeschichte wusste, in ein neues Licht rückt. Stück für Stück wird ihr klar, wer die Fäden in der Hand hat, und dass auch sie sich an der Vergangenheit schuldig macht, wenn sie dem Wunsch der Gräfin entsprechend ein Mittel findet, das die weitere Absenkung der Gemeinde verhindert und die Ausbreitung des Lochs stoppt. Und dennoch zieht sie eine individuelle Lösung vor, die nicht ganz eindeutig als Rebellion zu erkennen ist und dennoch eine starke Auswirkung haben wird. Raphaela Edelbauer ist mit „Das flüssige Land“ ein ungewöhnlicher, herausragender, tiefgründiger, fesselnder und unterhaltsamer Roman gelungen. Ein aberwitziger Genremix, der zwar schwer zu fassen ist, aber tiefe und nachhaltige Gedankenanstöße bewirkt und einen Höllenspaß bereitet. Lasst euch mitreißen, es lohnt sich auf vielen Ebenen.

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