papierfliegerin
„Staat X“ ist eine wirklich besondere Geschichte. Hinter diesem hübschen Cover verbirgt sich eine Handlung, die einerseits zum Nachdenken anregt, andererseits aber auch erschreckende Parallelen zur Wirklichkeit aufweist. Der Staat, der allein von den Schülern regiert wird, wartet mit allem auf, was es für ein solches System braucht: das Parlament, das Gericht, die Polizei inklusive Präsidenten und das „kleine“ Volk. Selbst die Presse ist vertreten und so fällt es nicht schwer, die Handlung auf das reale Leben zu übertragen. Unwillkürlich stellt man sich als Leser etliche Fragen; allen voran: geht es in der Politik tatsächlich so zu? Aber auch „Ist das wirklich nur Fiktion?“. Hier spielen einige Elemente mit, die sicher so oder so ähnlich auch in Deutschland – oder irgendwo anders auf der Welt – genau so stattfinden. Korruption, Erpressung, Manupulation und Sabotage. Und das ist nur der Gipfel des Einbergs. Die Autorin hat noch ganz andere Problematiken aufgezeigt, die weniger auf der politischen als viel mehr auf der privaten Ebene zu Hause sind. Misstrauen, das Gegeneinander ausspielen, aber auch Freundschaft, Liebe und Vertrauen. Schon auf den ersten Seiten wird klar, dass das Buch eher von einer unterschwelligen Spannung lebt, und auch von der Neugier des Lesers darauf, zu erfahren, in welcher Form alles aus dem Ruder läuft und wie die Schüler mit dieser Situation und der damit einhergehenden Verantwortung umgehen. Dabei hat Carolin Wahl eine Storyline geschaffen, die absolut rund, absolut nachvollziehbar ist; bei der wirklich jedes Zahnrad ins andere greift und alles logisch und authentisch vonstatten geht. Eine echt gruselige Tatsache, dass sich Menschen von Macht derart beeinflussen lassen und sich innerhalb kürzester Zeit verändern. Trotzdem zeigt die Autorin auch auf, wie sehr der familiäre Hintergrund dabei eine Rolle spielt. Ich für meinen Teil war komplett begeistert von der Idee, die hinter diesem Buch steckt. Wenn man erst einmal beginnt zu lesen, wird einem aber auch schnell klar, dass die Geschichte mehr von unterschwelliger Spannung und vor allen Dingen, von den Charakteren lebt [dazu gleich nochmal mehr]. Wir begeben uns hier in eine Welt, die realistischer nicht sein könnte und so war es für mich überhaupt kein Problem, mich von der Handlung an sich gefangen nehmen und mitreißen zu lassen. Dennoch ist das Erzähl-Tempo eher im mittleren Bereich angesiedelt, schließlich soll „Staat X“ kein Actionthriller sein, sondern ein Buch, das nachdenklich macht und ganz aktuelle Problematiken aufzeigt. Ich muss zugeben, dass ich gerade zu Beginn der Geschichte eher schwer ins Geschehen rein fand; was nicht zuletzt an der Vielzahl an Charakteren lag. Ich tat mir schwer, sie alle zuzuordnen, mir ihre Namen und ihre Jobs zu merken und auch noch ihre Vergangenheiten bzw. familiären Verhältnisse einzuprägen. Es verging einige Zeit, ehe ich mich zurecht fand, doch als dieser Punkt erreicht war, war ich eins mit den Figuren und fieberte auch problemlos mit ihnen mit. Für mich war dieser Einstieg, der noch recht wenig mit dem Staat zu tun hatte, zu lang – obwohl mir natürlich einleuchtet, dass auch Tiefgang Platz braucht und Seiten in Beschlag nimmt. Man wird auch gleich, wenn ich auf die Charaktere zurück komme klar merken, dass es auch einige Vorteile bot, dass sich Carolin Wahl für so viele Hintergrund-Informationen entschieden hat. Trotzdem hätte ich mir vorstellen können, das alles etwas knackiger zusammengefasst wird und der eigentliche Twist früher einsetzt. Gerade als es anfängt, temporeicher und dramatischer zu werden, ist das Ende schon nah und mir fehlte ein wenig die Ausgeglichenheit zwischen Vorgeschichte/Charakterinfos und der Handlung allgemein. Sehr schade, wie ich finde – aber natürlich befinden wir uns im Jugendbuch-Bereich und natürlich will ich diese großartige Idee und deren Umsetzung nicht kritisieren; denn die Ausarbeitung, die Gedanken die dahinter stecken und diese runde Gesamtbild grenzen eindeutig an Perfektion. Carolin Wahl schreibt, wie es nicht anders zu erwarten war, einfach großartig. Blidhaft, aber klar strukturiert kam die Geschichte zügig in Fahrt, jedoch nicht ohne vorher einige interessante und vor allem wichtige Informationen zur Handlung zu klären. Wie schon in „Die Traumknüpfer“ hatte ich permanent ein klares Bild vor meinem geistigen Auge, konnte mich wunderbar leicht in die Szenen hinein versetzen und fühlte mich als Teil des Ganzen. Erzählt wird „Staat X“ aus den Sichten aller vier Protagonisten plus einer weiteren allgemeinen Perspektive, was zwar etwas verwirrend war, weil eben jede Figur einen anderen Umgang hat und so etliche weitere ins Spiel kommen; aber alles in allem sehr passend. Wie ihr wisst, bin ich schon ein großer Freund von zwei Perspektiven; bei insgesamt fünf Sichten kommt daher deutlich mehr Spannung auf, in dem die einzelnen Kapitel dann prompt bei einem Cliffhanger enden und wir uns stets fragen, wie es denn nun mit Lara, Vincent, Melina oder Adrian weitergeht; jedoch vorher noch die Perspektiven der anderen Protas lesen müssen, um wieder an die Stelle des Cliffhangers zu kommen. Die Charaktere sind ein riesiger Bestandteil des Buches und sorgten dafür, dass die Geschichte gut funktioniert. Ich hatte oben schon erwähnt, dass sie alle mit erstaunlich viel Tiefgang ausgestattet sind und dem Staat X so allein schon eine gehörige Portion Leben schenken. Durch die enorme Ausleuchtung aller Beteiligten entstand ein klares Bild von jedem einzelnen und zeigte auf, wieso sie heute so sind, wie sie sind und wieso sie handeln und denken, wie sie es innerhalb des Schulprojekts tun. Ich glaube, ich lehne mich nicht zu weit aus dem Fenster, wenn ich sage, dass ich selten so klar strukturierte und detaillierte Figuren kennenlernen durfte wie die vier Teenager hier. Und da spreche ich erst einmal nur von den Protagonisten. Diese Schüler boten eine Bandbreite an unterschiedlichen Eigenschaften, Erlebnissen und Hintergründe und sie alle waren nicht nur im Verhalten, sondern auch in ihrer Sichtweise grundverschieden. Gleichzeitig wird aber durch eben jene Informationen auch deutlich, dass sich ihre Entwicklung nicht aus heiterem Himmel ereignet sondern durch Erziehung, Lebensumstände und Familie herbeigeführt wird. Erschreckend, aber unheimlich realistisch und greifbar. Adrian, Melina, Vincent und Lara wären sich an der Schule wahrscheinlich nie wirklich näher gekommen, sind aber nun durch das Projekt aufeinander angewiesen und lernen sich so gezwungenermaßen besser kennen. Trotzdem geht jeder irgendwie seinen eigenen Weg und hat seine eigene Sicht auf die Dinge, die die anderen nicht automatisch gutheißen müssen. Das war ein weiterer Punkt, der für Konflikte sorgen könnte und somit ein weiterer Punkt, der mir sehr gut gefiel. Adrian verkörpert hier wohl den Antagonisten, und trotzdem ist er durchgängig mein Lieblingscharakter gewesen; und zwar weil seine Beweggründe nachvollziehbar und verständlich waren. Er brachte immer wieder frischen Wind ins Geschehen und durch ihn wurde es nie langweilig. Lara war das pure Gegenteil – Carolin hat sie in unserem Instagram-Chat wiefolgt beschrieben: neu und ohne einen Plan. Und das trifft es genau. Lara sticht durch ihre herrliche Normalität aus der Masse an Charakteren heraus und besticht durch ihr sympathisches, liebenswertes Wesen. Auch die anderen beiden empfand ich als interessant und authentisch; nur konnten sie für mich eben nicht mit Lara und Adrian mithalten. FAZIT: Mit „Staat X“ ist Carolin Wahl eine erschreckend realistische Geschichte gelungen, die aufzeigt, mit welch einfachen Mitteln man die Macht erlangt und wie sehr Macht einen Menschen verändern kann. Einfache Schüler werden zu Bürgern eines Staates und benehmen sich genau so, wie man es nur aus Polithrillern kennt. Besonders diese Schüler waren es, die mich rund herum beeindruckt haben, die aber gleichzeitig auch dafür sorgten, dass mir der Einstieg nicht ganz leicht viel. Ein enorm starker Jugendroman mit einer brisanten, topaktuellen Thematik; aber leider auch mit kleineren Schwächen. Trotzdem gibt’s von mir eine bedingungslose Lese-Empfehlung; denn diese Geschichte kann nicht nur Jugendlichen, sondern auch Erwachsenen die Augen öffnen und zum Nachdenken animieren.