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Posted on 4.2.2020

Die skurrile und wunderbare Welt des John Irving „O Herr, bewahre uns vor törichter Andacht und sauertöpfischen Heiligen!“ Lässt John Irving Bruder Pepe, die leibhaftige Verkörperung des berühmten Gebets der Teresa von Ávila, denken. Über 70 ist er nun, der Lieblingsautor mit dem verschmitzten Blick, der literarisch umgesetzt immer hält, was er verspricht. Sein Mantra könnte lauten: „Shit happens, but life’s going on.“ Für seine Protagonisten wurde Murphys Law erfunden. Juan Diego aus „Straße der Wunder“ bildet hier keine Ausnahme. Abgewandelt gilt Teresa von Ávilas Bitte auch für Irvings literarisches Werk, ersetzt man Heilige durch Schriftsteller. Juan Diego, Schriftsteller mit mexikanischen Wurzeln, reist auf Einladung seines ehemaligen Protegés zu einem Vortrag. Mit leichtem Gepäck. Seine Gedanken allerdings sind schwerer Ballast. Verwirrt durch unüberlegte und unverantwortliche Betablockereinnahme und zusätzlich verwirrt von der Damenwelt, die sich ein wenig wie die Groupies from Hell gerieren, möchte er… Ja was? Zu Beginn der Reise weiß er nicht exakt zu artikulieren was genau er sich erhofft. Der Weg scheint auch hier wieder einmal das Ziel zu sein und wer Irving kennt weiß, dass dieser für dessen Romane so typische Suchende am Ende nicht unbedingt das Erwartete finden wird. Stattdessen – expect the unexpected. Beglückend ist dieses wunderbar komische und doch zugleich ernste Lesevergnügen nicht nur für eingefleischte John Irving Liebhaber – für sie aber ganz besonders – wobei, wie Irving seinen Hauptcharakter oft betonen lässt, hauptsächlich wohl Frauen die Leserinnen sind. Hier fließt viel Eigenerleben aus jahrzehntelanger Erfahrung ein. Aus eigenem Erleben weiß ich, dass gerade die Leserinnen es zu schätzen wissen werden in der Straße der Wunder diese ganzen herrlichen Anspielungen auf John Irvings bisheriges Œu­v­re zu entdecken. So ist Straße der Wunder fast schon ein vollständiges Résumé seiner Werke. Protagonist Juan Diego ist in Anteilen sicherlich John Irvings Alter Ego, wenn er denn autogiographische Romane schriebe. „Verschonen Sie mich mit hätte sollen,“ entgegnete Juan Diego, seine Romane waren alle Lehrstücke der Hätte – sollen – und Was – wäre – wenn- Abteilung.“ Der Meister (Irving) zitiert und erläutert John Irving. „Dieser Schriftsteller ist ein Meister des Kollisionskurses“, sagte Clark French, der ausgewiesene Guerrerro Spezialist, zu seiner Frau. „Es ist eine schicksalhafte Welt; Das Unvermeidliche wirft seine dunklen Schatten voraus.“ Geprägt ist aber auch Straße der Wunder vom wunderbar Plauderton des Autors, der nebenbei leichtfüßig bitterböse Kirchen- und Religionskritik hübsch verpackt in ihrer ganzen Idiotie serviert und es wie gewohnt dem Leser selbst überlässt, anhand der Absurdität und tiefen Komik mancher Gebräuche und Rituale und ihrer Anhänger, seine Schlüsse zu ziehen. So lebt der Hauptcharakter in der Vergangenheit, erlebt die Verluste, die ihn prägten immer wieder, ist auf der Suche – doch Gegenwart und nahe Zukunft verpasst er dabei. Dabei ist dadurch dieser unselige Kreislauf erst entstanden. Durch das Verpassen des Präsens, weil er in der Vergangenheit gefangen ist. Dieser Wechselwirkung trachtet Juan Diego zu entfliehen, indem er versucht, den einschneidenden Erfahrungen seiner Jugend zu begegnen und sich ihnen zu stellen. Zu spät möchte man rufen. Carpe Diem! Doch die Ohren des humpelnden Schriftstellers sind verschlossen, hinken ebenfalls – wie seine Gedanken – der Zeit hinterher. So entwickelt sich erneut eine Tragödie, gemildert durch die ureigene feine Komik die allen Romanen John Irvings zu eigen ist. Fiktion kann einfach mehr als Realität. Auch um die Kunst des Geschichtenerzählen geht es, transportiert im freundschaftlichen Disput der beiden Schriftsteller Clark French, dem zielgerichteten Moralisten, der Werte vermitteln möchte, und Juan Diego der meint: „wirkliche Menschen wären nicht rund genug, um als Figuren in einem Roman zu funktionieren.“ Diese Dispute zwischen den beiden Schriftstellern, dem ehemaligen Lehrer und seinem erfolgreichen Schüler sind ein Highlight der Straße der Wunder. Eines von vielen zugegebenermaßen. Für mich waren sie allerdings eine Offenbarung. Jeder gute Roman sollte einen tief innen berühren und Irving hat das bei mir jedesmal aufs Neue erreicht. Seine Romane waren und sind Augenöffner und mindopener und auch in diesem Buch – obwohl ich die Hauptfigur etwas schrullig und geistig bereits klapprig empfand – ist der Funke übergesprungen. Alles dreht sich am Ende nur um die Liebe zum Schreiben, zum Geschriebenen und zu Büchern, die einem schlicht gefallen und Geschichten, die es wert sind erzählt zu werden. Gleichgültig ob autobiographisch oder der Phantasie entsprungen, oder bestenfalls beides. Wichtig ist, ob genug Raum zum weiter phantasieren und philosophieren bleibt, um ihn mit individuellen Gedanken zu füllen. Hinfort mit den Schubladen, die das Denken und Schreiben einkasteln. Sprache und Stil, das Handwerkszeug muss sitzen, aber mit der Ablösung von engen Rahmen erreicht man die Gefühle der Leser. Und diese Kunst des Fabulierens, immer ein wenig abseits der realen Welt, zugleich surreal und komisch und doch inmitten der Wirklichkeit beherrscht John Irving meisterhaft. Report this ad So bleiben am Ende dieses wie gewohnt an Detailreichtum und Phantasie überbordenden Romans der natürlich auch von Krieg und seinen fürchterlichen Folgen; Waisenkindern, Liebe, nicht in die Norm passenden Menschen, schicksalhaften Löwen, Glück, übernatürlichen Gaben und Jungfrauen aller Arten sowie ihrem Gegenpart handelt, noch offene Fragen und die große Hoffnung, dass der Autor – der Meister- hier nicht seinen Schwanengesang darbietet, indem er sein bisheriges Gesamtwerk in die Straße der Wunder eingeflochten hat, sondern seine Leserschaft demnächst in einem neuen Roman mitnimmt zu weiteren „Wundern“, die seinem humorvollen, positiven und dabei doch kritisch beobachtendem Geist bestens bereinigt entspringen. Bis dahin lohnt es sich immer wieder, seine anderen Romane hervorzuholen und in sie einzutauchen. Zirkuskind und Owen Meany, sowie die Wilde Geschichte vom Wassertrinker, Gottes Werk und Teufels Beitrag sind hier ganz klar meine Favoriten.

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