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seehase1977

Posted on 4.2.2020

Wenn die Zeiten sich ändern – Ein eindrucksvoller Gesellschaftsroman Der Schaufensterdekorateur Stettler lebt für seinen Beruf. Dieser Moment, wenn die sieben großen Schaufenster vom alteingesessenen Kaufhaus Quatre Saisons enthüllt werden, ist seine Berufung, seine Passion. Seit Jahrzehnten ist der knappt 60-jährige für die Dekoration der Schaufenster verantwortlich. Als ihm eines Tages wie aus dem Nichts ein jüngerer Kollege zur Seite gestellt wird, beginnt Stettlers Welt zu bröckeln. Er sieht ihn als Rivalen und Feind, fühlt sich durch ihn bedroht und beginnt sogar, dem Kollegen nachzuspionieren. Lediglich die Brieffreundschaft mit der Radiopianistin Lotte Zerbst, die er sehr bewundert, hält ihn aufrecht. In dieser für ihn so zermürbenden Zeit hofft er auf nichts mehr als auf eine Begegnung mit ihr… Meine Meinung: „Unhaltbare Zustände“, ein Roman des Schweizer Autors Alain Claude Sulzer, beschreibt die Geschichte des Schaufensterdekorateurs Stettler, der mit den unaufhaltsamen Veränderungen und Konventionen, die das Leben mit sich bringt, nur schwer zurechtkommt. Eine Story, die Sulzer eindrucksvoll und mit toller Sprache auf anschauliche Weise erzählt. Fast sein ganzes Leben lang ist Stettler bereits der Schaufensterdekorateur im „Quatre Saisons“. Er lebt für seinen Beruf, genießt die Bewunderung die ihm für seine Werke entgegengebracht wird. Sein Alltag ist geprägt von festen Strukturen und Werten, sie geben ihm Halt und Sicherheit. Man schreibt das Jahr 1968, eine Zeit des Umbruchs und der Rebellion, eine Entwicklung, der auch Stettler nicht entfliehen kann. Als der junge Bleicher eingestellt wird, ein kreativer und moderner Freigeist, dessen neue, innovative Ideen sich vor allem in der Gestaltung und Präsentation der Schaufenster bemerkbar machen, fühlt Stettler sich abgeschrieben, gedemütigt und in seiner Existenz gefährdet. Bleicher wird zum Feindbild und die Suche nach der Fehlbarkeit des jungen Kollegen wird zu Stettlers Passion, bei der er auch vor Verleumdung und Manipulation nicht zurückschreckt, bis die Situation irgendwann eskaliert. Alain Claude Sulzer gelingt es grandios, die globalen rebellischen Umbrüche der 68er Jahre mit dem Leben des kleinen Mannes zu verbinden. Die Konflikte, die eine aufbegehrende junge Generation ganzen Regierungen aufgezwungen hat, muss auch Stettler im Kleinen erleben, eine Entwicklung, der er nichts entgegenzusetzen hat. Der Autor schreibt flüssig, kurzweilig und mit sehr viel Fingerspitzengefühl, sein Schreibstil wirkt fast schon altmodisch, was aber hervorragend zur Erzählung passt. Stettler, die Hauptfigur dieses Romans, ist unglaublich authentisch und hat viel Tiefgang. Das Gefühlschaos, das in ihm wütet, die Überforderung durch das Neue, ist fast greifbar und man schwankt zwischen Mitleid und Unverständnis für diesen, in seinen Werten und Strukturen festgefahrenen Menschen. Stettlers Briefwechsel mit der Radiopianistin Lotte Zerbst mutet zwar nur wie eine Nebengeschichte an, doch die Pianistin ist es, die ihm die nötige Kraft und die Sicherheit gibt, die er braucht. Eine mögliche Begegnung mit ihr hält Stettler aufrecht, erst als die Kommunikation abebbt, kommt es zum tragischen Showdown. Mein Fazit: „Unhaltbare Zustände“ ist ein intensiver und nachdenklich stimmender Gesellschaftsroman. Alain Claude Sulzer erzählt eine eindrucksvolle Geschichte voller Tiefgang, die nie langatmig oder oberflächlich wird. Absolute Leseempfehlung!

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