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literary_marie

Posted on 3.2.2020

Pierre ist ein äußerst interessanter Mann. Ich glaube, man kann ihn nur lieben oder hassen. Ein Zwischending gibt es da nicht. Mit seinem unglaublich direkten, trockenen – fast schon schwarzen – Humor dominiert er die Erzählung Verhulsts und verleiht der Geschichte mit seinem distanziert wirkenden Charakter einen besonderen Charme. Ich habe Pierre relativ schnell in mein Herz geschlossen. Mit seinem Spott und der scheinbaren Gleichgültigkeit, die er an den Tag legt, brachte er mich immer wieder zum Schmunzeln und ich war überrascht, dass ausgerechnet Pierre eine so emotionale Liebesgeschichte erzählen kann, bei der 138 Seiten keinesfalls ausreichen. Sonny ist fünfzehn Jahre alt, geistig behindert, wohnt in einem Pflegeheim und Pierre ist der einzige, der ihn regelmäßig besucht. Warum? Sonny ist der Sohn von Pierres großer Liebe. Eine Liebe, die er über Jahre nicht vergessen konnte und deswegen will er Sonny ein ganz besonderes Geburtstagsgeschenk machen: Einen Tag vor seinem sechzehnten Geburtstag holt Pierre ihn aus dem Pflegeheim ab und fährt mit ihm in die Provence. Er will Sonny eine Geschichte erzählen, genau dort, wo vor vielen Jahren die Liebe begann. Jedoch weiß niemand aus dem Pflegeheim über Pierres Plan Bescheid und obwohl Sonny ein guter Zuhörer ist, kann er keine der Informationen aufnehmen. Dennoch hält Pierre an seiner Idee fest. Er muss es erzählen. Er muss seiner großen Liebe noch ein einziges Mal nahe kommen, wenn auch nur mit Worten… Als ich das kleine Büchlein anfangs in den Händen hielt, war ich etwas skeptisch. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass auf lediglich 138 Seiten eine Geschichte erzählt wird, die mich fesseln kann. Nun, was soll ich sagen? Ich habe mich gewaltig geirrt. Den Sommer kannst du auch nicht aufhalten von Dimitri Verhulst ist eine durchgehende Erzählung, die nicht durch Kapitel oder lange Einschübe unterbrochen wird. Die Handlung fließt dahin, die Perspektive wechselt manchmal vom Erzähler zu Pierre und wieder zurück und mit jeder Seite hatte ich mehr und mehr das Gefühl, dass ich an Sonnys Stelle sitze und dem zynischen, verbitterten Kerl zuhöre. Verhulsts Geschichte zeichnet sich nicht durch spannende Plottwists oder rasante Szenen aus; sie ist vielmehr realistisch und echt. Pierres Liebe zu Sonnys Mutter könnte aus dem Leben jedes einzelnen von uns gegriffen sein, man erkennt sich in einigen Punkten wieder und vergleicht Pierres Geschichte mit seiner eigenen (verlorenen) Romanze. So schnell wie die Erzählung anfing, war sie auch vorbei und als ich die letzte Seite umschlug, hatte ich das Bedürfnis nachzufragen: Was ist dann passiert? Doch ich glaube, das werde ich mir wohl selbst ausmalen müssen…

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