fernwehwelten
„Grenznebel“ von Senta Herrmann. Ihr Debütroman. Mein erster Thriller. Verschiedenfarbige Augen sorgen dafür, dass die Brüder Noah und Gabriel in einem Elternhaus aufwachsen, das man so niemandem wünschen würde. Sie erleben eine Kindheit mit wenig Liebe und umso mehr Gewalt. Allein Gabriels Angst um seinen jüngeren Bruder ist es zu verdanken, dass sie dem Grauen entkommen. Einige Zeit später werden die Geschwister von dem Ehepaar Castell adoptiert, unter deren Fittichen das Leben der beiden endlich geregelte Bahnen zu nehmen scheint. Bis... Ja, bis das Leben beschließt, dass die beiden in ihren jungen Jahren noch nicht genug gelitten haben. Zehn Jahre später wird Noah aus einer psychiatrischen Klinik entlassen. Nicht nur er, sondern auch Gabriel, dessen beste Freundin Helena und sein Adoptivbruder Alex haben mit der neuen Situation zu kämpfen. Erst Recht, als sich herausstellt, wie grausam das Schicksal wirklich sein kann. Als ich das Cover das erste Mal gesehen habe, lief mir direkt ein kurzer Schauer über den Rücken (Vergesst nicht, ich habe ein zart besaitetes Herz, das sich normalerweise auf Fantasy-Bücher stürzt, bei denen das Happy End zumindest in gewisser Weise vorprogrammiert ist). „Grenznebel“ hingegen überzeugt als Thriller bereits mit einem düsteren, teils verschwommenen Bild, das eigentlich nur eine Frage an seinen Betrachter aussendet: „Na, Kleines, traust du dich?“ Kurzum: Ich habe mich getraut. Und ich habe es nicht bereut. Denn was mir bei diesem Buch extrem gut gefallen hat, ist die Entwicklung der einzelnen Charaktere. Ich bin weder Psychologin noch Psychiaterin, doch mir erschienenen die Wandlungen der Personen extrem realistisch. Während die beiden leiblichen Brüder in ihrer Kindheit versuchten, den Leiden des Lebens durch ein überdurchschnittlich erwachsenes Verhalten immer einen Schritt voraus zu sein, werden sie in späteren Jahren von den Defiziten ihrer sozialen Entwicklung eingeholt. Auch begeisterte mich die Tiefe, die Senta Herrmann ihren Charakteren verpasst hat. Das Gefühl, die verschiedenen Personen kennenzulernen, wurde durch den Einbau von Sprüngen zwischen der Vergangenheit und Gegenwart sowie zwischen unterschiedlichen Erzählperspektiven unterstützt. Was ich allerdings schade finde, ist, dass ich trotz meinem Verständnis für die Charaktere keine richtige Beziehung zu ihnen aufgebaut habe. Als ich das Buch im Anschluss an den Epilog zugeklappt habe, hatte ich nicht das Gefühl, meine neuen Bekanntschaften zu vermissen – was vielleicht aber auch daran lag, dass ich mich beim Lesen nie zu weit auf eine Person einlassen wollte. Man weiß ja nie, wer sich bei einem Thriller vielleicht doch noch als schwarzes Schaf entpuppt! Ich habe meine Sympathien also schon beim Lesen lieber mit Vorsicht genossen. Neben den Charakteren nun noch ein kurzes Feedback zum Schreibstil von Senta Herrmann, der wohl gerade bei einer Erstveröffentlichung ein größeres Augenmerk verdient. Mir persönlich ist aufgefallen, dass das Buch trotz seiner düsteren Geschichte amüsante Passagen aufweist, die es mir ermöglicht haben, weiterhin ohne Nachtlicht zu schlafen. Obwohl die Spannung permanent aufrecht erhalten wurde, fühlte ich mich davon nicht erdrückt. Was mich zwischendurch aber aus dem Konzept gebracht hat, war der Einsatz von vielen unterschiedlichen Anreden (z.B.: Der Ältere, der Blonde, der Sprössling). Ich kann mir vorstellen, dass es als Autorin nicht gerade einfach ist, in einer Szene mit drei gleichgeschlechtlichen Personen immer klar abzugrenzen, wer gemeint ist. Nur musste ich speziell am Anfang des Buches oftmals innehalten, um zu überlegen, wer mit der jeweiligen Beschreibung gemeint ist, was mich dann jedes Mal aus dem Lesefluss gerissen hat. So oder so hat mich das aber nicht davon abgehalten, während des Lesens permanent mitzurätseln. Ich habe mich ein wenig wie bei „Hänsel und Gretel“ gefühlt. Senta Herrmann hat neue Informationen in der Geschichte wie Brotkrumen im Wald gestreut, wodurch die Spannung allzeit aufrechterhalten wurde und meine Neugierde immer geweckt blieb. Tatsächlich war ich zwischendurch auch auf dem richtigen Dampfer – nur um von dem Ende dann nochmal auf dem gänzlich falschen Fuß erwischt zu werden (Ich meine... WAS?! Holla die Waldfee!). Speziell dieses überraschende und wirklich alles in Frage stellende Ende bringt einen dazu, nach dem Wegstellen des Buchs nicht direkt weiterzuziehen... Sondern nachzudenken, zu grübeln, vielleicht sogar doch nochmal zum Regal zu gehen, um einige Passagen erneut zu lesen – um auch wirklich zu verstehen, was das jetzt bedeutet. Dementsprechend hat Senta Herrmann in meinen Augen einen Thriller verfasst, der als starker Debütroman mit einem Gruselfaktor zu beschreiben ist, dem sich auch Thriller-Neulinge hingeben können, ohne aber für erfahrene Thriller-Leser langweilig zu sein.