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Bris Buchstoff

Posted on 2.2.2020

Vor gerade mal 10 Jahren wurde ein heute für viele Menschen nicht mehr aus ihrem Alltag wegzudenkendes technisches Gerät auf den Markt gebracht, dessen Funktionen sich dermaßen schnell weiter entwickelt haben, dass dessen Nutzer kaum mehr Schritt halten können: das Smartphone. Richtig. Gerade mal zehn Jahre - und die Abhängigkeiten von diesem meist nicht mehr als Handteller großen Gerät werden immer größer. Mit daran "schuld" sind natürlich nicht nur die technischen Möglichkeiten der Mobiltelefone, sondern vor allem die teilweise kostenlos zu nutzenden sogenannten Sozialen Medien - Netzwerke, die mittlerweile eine Art der Kommunikation zu Tage fördern, die nicht mehr wirklich sozial zu nennen ist. Es scheint, als ob alles immer schlimmer, alles immer wichtiger, alles immer dramatischer wird. Doch ist es das wirklich und was kann man tun, wenn man sich von diesem Gefühl der Panik nicht anstecken lassen will? Matt Haig hat sich in seinem neuesten Buch "Mach mal halblang" damit auseinandergesetzt wie damit umzugehen ist. Aus der Sicht seines eigenen Lebens, in dem es für ihn aus persönlichen Gründen wichtig ist, jedwede unangenehme Aufregung wenn schon nicht zu vermeiden, dann doch zu einem weniger unangenehmen Moment zu verändern, zeigt er wohltuend entspannt, unaufgeregt und humorvoll so einige Möglichkeiten und Wahrheiten auf, die uns nicht fremd sind, die wir aber ab und an gerne vergessen. Sind Sie schon durchgedreht oder arbeiten Sie noch daran? Matt Haig hat - wie er in seinen Büchern bereits mehrfach dargelegt hat - eine Erkrankung, die medizinisch mit dem Begriff "Depression und Angststörung gemischt" bezeichnet wird. Hier wird absichtlich von haben gesprochen, nicht von leiden - denn wie er mit dieser Erkrankung umgeht, ist ein aktiver Prozess und keinesfalls der eines passiven Opfers. Er ist sich seiner Erkrankung bewusst und geht ebenso damit um. Auch wenn er, wie wohl die meisten von uns Menschen, in Situationen kommen kann, die ihn stressen und damit bei ihm zu den unangenehmsten Attacken von Panik und Angst führen. Als es wieder einmal zu einer solchen Situation kommt, die Haig zunächst als nicht gravierend einschätzt, seiner Frau jedoch bereits im Ansatz zeigt, dass er daran arbeitet, in nächster Zeit "durchzudrehen" - ein sehr genaues Bild, dessen, was sich im Kopf abspielt, wenn es zu einer solchen Attacke kommt ist eben dieses nicht mehr Stillstehen der Gedanken - verfällt er nicht auf die in der Vergangenheit bereits als nicht funktionierend erwiesenen Mechaniken der Ablenkung. Er versucht, die Attacken mit scheinbar sinnvollen Aktivitäten in Griff zu kriegen, die vor allem mit seinem Smartphone und den damit verbundenen Sozialen Medien zu tun haben. Doch auch das funktioniert nicht. Denn der tatsächliche Auslöser für die Panik kam eben von dort: Er fühlte sich von einer ihm unbekannten Person, die noch dazu tausende Kilometer entfernt von ihm lebte, in die Ecke getrieben. Wer ab und an mal in den Sozialen Medien unterwegs ist, kennt dieses Gefühl ganz sicher. Wir alle haben unsere Stellen, an denen wir für eine Sache stehen, für die wir kämpfen, die uns wichtig ist. Und wenn wir an diesen Stellen angegriffen werden - so ganz plötzlich aus dem Nichts - dann fühlen wir uns auf jeden Fall gestresst. Wie weit sich das auswirkt mag unterschiedlich sein, dennoch ist der Ausgangspunkt ein ähnlicher. Dabei kann man aber auch aus solchen Situationen durch eine Veränderung des Blickwinkels etwas Positives ziehen "Es liegen Welten zwischen einem Gefühl von Stress und einer psychischen Störung, aber beide sind verwandt, wie Hunger haben und verhungern, und was für das eine schlecht ist (Nahrungsknappheit), ist für das andere auch nicht gut. Die Dinge, die mir zu schaffen machen, wenn ich leicht gestresst bin, sind dieselben Dinge, die fatal für mich sind, wenn ich krank bin. Umgekehrt folgt, dass die Lehren die ich aus der Krankheit ziehe, auch für bessere Zeiten gelten." Eine Veränderung, die uns alle betrifft Was die zwischenmenschliche Kommunikation angeht, hat sich gerade durch die Ausweitung der Sozialen Medien eine Veränderung aufgetan, die uns alle betrifft. Sind schon von Angesicht zu Angesicht Missverständnisse vorprogrammiert - man erinnere sich nur an das einfache, grundlegende Shannon-Weaver-Modell aus den 1940er Jahren, das vielfältige Störungen aufzeigt, die durch das Nichterkennen von Ironie oder unterschiedlichem Verständnis oder Wissensstand, also den Inhalten der Blackbox, die zwischen Sender und Empfänger steht, aufkommen können - so ist ein solches Nichtverstehen über ein zusätzlich dazwischen geschaltetes Medium, wie Twitter oder Facebook noch viel wahrscheinlicher. Und solche Missverständnisse produzieren Stress. Deshalb ist die von Matt Haig aufgeworfene Fragestellung "Wie gehe ich mit den neuen Möglichkeiten unseres immer schneller werdenden technologischen Fortschritts um" weder eines, das ausschließlich Personen betrifft, die sensitiver auf Stress u. ä. reagieren als andere, noch betrifft es ausschließlich Individuen. Menschen können sich schneller verändern, als es Gesellschaften tun. Und genau hier liegt der Knackpunkt: Die Panik, die unseren schönen blauen Planeten derzeit erfasst - Melissa Etheridge sprach auf einem kürzlich in Berlin stattfindenden Konzert davon, dass ihr Heimatland derzeit so etwas wie einen "hysterischen Zusammenbruch" erleide - kann uns alle in unserem Leben beeinträchtigen, nur wir selbst haben es in der Hand, wie weit wir diesen Weg gehen wollen. Matt Haigs Buch mag aus dem Impuls entstanden sein, sich selbst und anderen von einer depressiven mit Angststörungen gekoppelten Erkrankung Betroffenen Linderung zu verschaffen. Im Endeffekt hat er aber allen Menschen, die sich bewußt mit den Problemen unserer Zeit auseinandersetzen möchten, einen Leitfaden an die Hand gegeben, wie es gelingen kann, uns und damit auch unsere immer nervöser werdende Erde wieder zu mehr Ruhe und Besonnenheit und damit zu Lösungen kommen zu lassen. Entspannung tut Not Haig beginnt also von sich ausgehend, Strukturen und Vorgehensweisen unterschiedlicher, am Geschehen beteiligter Bereiche zu analysieren. Dabei wird deutlich, dass die Nervosität, die allgemein bei vielen Themen in der Luft liegt, durchaus gewollt ist. Denn: Glückliche Menschen, die in der Gegenwart leben, konsumieren kaum. Da in Zeiten des Kapitalismus aber der vielfältige Konsum das Wichtigste zu sein scheint, wird auf allen Kanälen propagiert, dass Mangel herrscht. Das geht soweit, dass immer mehr Menschen von sich selbst überzeugt sind, nicht genug zu sein. Die Leere, die dadurch entsteht, soll durch Konsum getilgt werden. Erzeugt aber nur kurzfristig ein Gefühl der Freude oder Verbundenheit. Anstelle sich der Frage zu stellen, was genau das persönliche Glück sein kann, wird verdrängt. Verständlich, aber nicht sinnvoll. Unangenehmes auszuhalten muss man lernen. Unsicherheit ist nichts, was nur bestimmte Menschen betrifft und hat schon gar nichts mit unserem Aussehen zu tun. Es ist ein Gefühl. Und Gefühle sind das, was uns zu Menschen macht - im Gegensatz zu Robotern. Entspannung tut Not und das Zauberwort ist weder Sicherheit, noch Gewissheit, sondern Mut. Mut sich den Unwägbarkeiten des Lebens zuzuwenden und einfach mal abzuschalten, alle Fünfe grade sein lassen. Wir bestehen aus Sternenstaub Matt Haig hat mit Mach mal halblang eine kluge, warmherzige, klar strukturierte Analyse eines durchaus bedenklichen Zustandes geleistet. Dabei hat er sich unterschiedlicher ernstzunehmender Quellen bedient, eigene Schlüsse gezogen und weitreichende Verbindungen hergestellt. Nach und nach rollt er - ausgehend von seiner Person - auf, was uns allen zu schaffen macht, bestätigt dabei, dass es sich dabei nicht um Kleinigkeiten geht, die man einfach mal beiseite wischen kann und zeigt gangbaren Lösungsstrategien auf. Ausgedacht hat er sich das nicht alles selbst. Die Lektüre, die er zurate gezogen hat reicht von Emily Dickinson über Carl Sagan zu Yuval Noah Harari, um nur ein paar Beispiele zu nennen. Die Schlüsse und Verbindungen, die er zieht, können uns allen eine Hilfe sein, unserem Wesen als Menschen wieder etwas mehr auf die Spur zu kommen, denn im Grunde genommen ist alleine die Tatsache unserer Existenz schon genug für deren eigene Berechtigung, denn wie Carl Sagan nachweist, sind wir Kinder des Lebens, des Kosmos selbst: "Der Stickstoff in unserer DNA, das Kalzium in unseren Zähnen, das Eisen in unserem Blut, der Kohlenstoff in unserem Apfelkuchen, alles ist aus dem Innern von Sternen gemacht. Wir bestehen aus Sternenstaub." Manchen Leser*innen mag das alles banal vorkommen, doch wenn es tatsächlich so banal sein sollte, weshalb geraten wir dann derzeit häufig in eine so unentspannte Lebensweise? Matt Haig hat Antworten gesucht, Lösungen gefunden und diese für uns Leser*innen wohltuend aufbereitet. Es tut einfach gut, ab und an einen Schritt beiseite zu treten und unsere Abhängigkeiten und subjektiven Befindlichkeiten aus der Ferne zu betrachten. Perspektivwechsel auf Dauer sind nicht das Schlechteste. "Die Welt ist real, aber deine Welt ist subjektiv. Deine Perspektive zu verändern, verändert den Planeten. Und dein Leben. Eine Version der Multiversums-Theorie lautet, mit jeder Entscheidung, die wir treffen, erschaffen wir eine neues Universum. Manchmal landest du bereits in einem besseren Universum, wenn du zehn Minuten das Telefon weglegst."

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