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SternchenBlau

Posted on 2.2.2020

Atmen und weiterlaufen „… ein ein aus aus aus aus…“ CN / Content Note: Suizid, Depression Der Tod, das ist leider so, ist eigentlich ziemlich banal. Alle werden ihn erleben, alle sind schon zuvor damit konfrontiert, weil geliebte Menschen um uns herum sterben. Aber eigentlich ist der Tod DIE existentielle Frage schlechthin. Dieser Ambivalenz ist sich jede Zeile von Isabel Bogdans „Laufen“ bewusst. Auch die Protagonistin spürt das, in deren Kopf wir eintauchen und die uns ihre Sicht und ihre Gedanken als Ich-Erzählerin schildert. Sie muss sich immer wieder selbst dran erinnern, beim Laufen zwei Mal ein- und vier Mal auszuatmen. Sie kämpft gegen diese Banalität und taucht darin ein, wenn sie ihre Umgebung schildert und ihre Gedanken, die ihr manchmal selbst albern vorkommen. Ein Stück des Weges hat sie schon geschafft, als wir sie kennenlernen. Vor einem Jahr hat ihr Lebensgefährte Suizid begangen. Und jetzt sind wir dabei, wenn sie wieder mit dem Laufen beginnt, ein Jahr werden wir ihr folgen. „Manchmal träume ich vom Laufen oder vielmehr davon, nicht laufen zu können, ich muss schnell rennen, komme aber nicht vom Fleck, ich bewege mich in Zeitlupe, wie in der Schwerelosigkeit, ein Schritt dauert ewig und bringt mich nicht weiter…“ Ich bin selbst keine Läuferin, vermutlich eher das genaue Gegenteil einer Läuferin. Und trotzdem: Wow, dachte ich mir bei der ersten Zeile dieses wundervollen Buches. Und dieses Wow-Gefühl blieb in jeder Seite und jeder Zeile erhalten. Alle, die Menschen mit Depressionen kennen oder selbst damit konfrontiert waren, werden sich in diesem Buch wieder erkennen. Dennoch überwog für mich nie die Traurigkeit, sondern die Schönheit der Sprache und der Fokus auf das Leben. „Das, was noch im Boden festgewachsen ist, kommt bestimmt wieder neu, aber die beschnittenen Stümpfe sehen schrecklich verstümmelt aus, man möchte beinahe einen Verband drumwickeln und sie ein bisschen streicheln, es sieht aus, als könnte es nie wieder leben, aber das wird es wohl, und das ist doch alles eine beschissene Metapher. Ich kann nicht mehr, ich muss langsamer laufen oder ein paar Schritte gehen, aber ich will nicht gehen, ich will rennen, mir egal, ob ich noch kann, ich kann nicht mehr.“ Natürlich ist das ganze Buch eine Metapher, eine „beschissene Metapher“ darüber, dass Tod und Banalität so nah beisammen liegen. Glück und Unglück. Es geht ums Weiteratmen, ums Weiterlaufen. Die Ich-Erzählerin ist gebildet, auch ihr Gedankenstrom bildet dies ab. Aber dann gibt es immer wieder Ausbrüche mit Flüchen wie „beschissen“ zwischen ihrer intellektueller Selbstreflexion und ihrer Ablenkung mit Banalitäten. Ja, das Leben ist manchmal ganz schön „beschissen“, auch, wenn wir hier in Deutschland „First World“-Probleme haben, doch auch der Tod ist eben eines davon. Ich habe mir so viele Stellen markiert, weil sie wahr sind und mich angerührt habe. Wünschen wir uns nicht alle manchmal so etwas? „…ich hätte auch gern einen Geigenbauer für mich selbst, der mich wieder aufarbeitet und neu justiert, damit ich wieder klinge.“ Im Verlauf des Buches ändert sich nicht nur die Sichtweise der Protagonistin, sondern die Autorin ändert nach und nach auch Aspekte der Sprache. Das ist subkutan und geschickt (ich werde keine Beispiele nennen, damit Ihr nicht beim Lesen darauf wartet…) und eine wahre Freude beim Lesen. Sprachlich finde ich „Laufen“ ein Meisterwerk. Die Bandwurmsätze bilden den Gedankenfluss nach, gleichzeitig sind die einzelnen Elemente klar und nachvollziehbar. Die Struktur der Sprache steuert die Wahrnehmung. Ich habe übrigens parallel das Hörbuch, gelesen von Johanna Wokalek gehört. Trotzdem war es mir ein Bedürfnis jede einzelne Szene dieses wundervollen Buches selbst gelesen zu haben. Was ich auch spannend fand, dass der Rhythmus beim Hören und Lesen wirklich anders war. Beim Hören habe ich längere Passagen gehört, beim Lesen habe ich oftmals nach denen einzelnen Kapiteln, die Lauf-Sessions abbilden, aufgehört und das Gelesene wirken lassen. Als letzten Punkt möchte ich noch erwähnen, dass „Laufen“ ein wundervolles #frauenlesen ist. Es geht im die Selbstdefinition in der Beziehung, ums Älterwerden, um Attraktivität. BIPoC kommen in der weißen Hamburger Blase nicht vor und der Diversityaspekt steht nicht im Vordergrund, doch Heterosexualität ist für die Ich-Erzählerin völlig normal und auch die Neurodivergenz ihres toten Lebensgefährten wird als Spielart des Lebens dargestellt. Fazit Wow! Dieses Buch ging mir so nach, ich bin absolut begeistert! 5 von 5 Sternen.

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