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Simone Scamander

Posted on 1.2.2020

Worum geht’s? Seit ihre Mutter gestorben ist und ihr Vater sich aus dem Staub gemacht hat, leben Julia und ihr Bruder Dek bei einer Diebesgruppe. Mit zwielichtigen Aufträgen und Spionagediensten verdient die skurrile Truppe ihren Lebensunterhalt. Julia fallen sie besonders leicht, denn sie verfügt über eine besondere Gabe: Sie kann sich unsichtbar machen! In einer Welt, in der Magie zugleich auch den Tod bedeutet, aber jedoch niemand von Julias Fähigkeit erfahren. Als ein neuer Job sie als vermeintliches Dienstmädchen in ein edles Herrenhaus führt, in dem es selbst nicht mit rechten Dingen zugeht, stößt Julia allerdings auf düstere Geheimnisse, die ihr Weltbild völlig auf den Kopf stellen. Ehe sie sich versieht, steckt sie selbst tiefer in den Schauerlichkeiten fest, als ihr lieb ist. Und schon bald muss sie sich entscheiden, welche Opfer sie für sich und ihre Freunde zu geben bereit ist … Meine Meinung: Mit „Die verborgene Gabe“ beginnt die „Schattendiebin“-Trilogie der amerikanischen Autorin Catherine Egan, die mit diesem Buch zugleich auch ihr deutschsprachiges Debüt feiert. Die Autorin entführt ihre Leser in ihrem Auftakt in die Stadt Spira, in der die junge Diebin Julia zusammen mit ihrem Bruder Dek bei einer Diebesbande lebt. Mit Diebes- und Spionageaufträgen verdient der Trupp sein Geld. Sorgen über eine rechtliche Bestrafung machen sie sich kaum, denn Spira ist mit anderen Problemen beschäftigt: grausigen Morden und verlogenen Hexen. Magie ist verboten und wer sie zu wirken vermag, wird gnadenlos im Fluss ertränkt. In einer solchen Welt ist es für Julia, die die Fähigkeit besitzt, sich unsichtbar zu machen, unheimlich gefährlich. Doch als Spionin ist ihre Gabe ein wahres Geschenk. Protagonistin Julia ist eine spezielle Persönlichkeit, mit der so mancher Leser wohl seine Schwierigkeiten haben wird. Sie ist weder Everybody's Darling noch ist sie eine Heldin, der ihr Glück in den Schoß gelegt wird. Julia ist stark, tough und eigensinnig. Sie ist die beste Diebin Spiras – und muss ihrer Rolle auch gerecht werden, um sich, ihren Bruder und ihren Diebestrupp über Wasser zu halten. Julia hatte es in ihrem jungen Leben nicht leicht, ihr Schicksal hat sie geprägt und vorsichtig, gar ein wenig engstirnig werden lassen. Sie trifft in „Die verborgene Gabe“ viele schwerwiegende und falsche Entscheidungen, an deren Konsequenzen sie zu zerbrechen droht, aber genau diese markante Entwicklung ist es, die Julia für mich zu einer unfassbar starken Protagonistin gemacht hat. Sie muss stolpern, fallen, leiden, um auf schmerzliche Weise zu der Erkenntnis zu gelangen, wer sie ist – und wer sie sein will. Der Großteil der Geschichte wird von Julia selbst erzählt. Ab und an finden sich zwischen den Kapiteln jedoch kurze, von einem allwissenden Erzähler eingeworfene Sequenzen, in denen der Leser Zeuge grausamer Morde wird. Augenblicklich will man wissen, was es mit den schrecklichen Verbrechen auf sich hat. Wessen Hand führt das Messer an die Hälse der Opfer? Welche Absichten, welche Gründe stecken dahinter? Warum müssen diese Menschen, die so unschuldig erscheinen, sterben, und welche Verbindung besteht zwischen ihnen? Während Julia als Spionin im Herrenhaus noch im Dunkeln tappt und nach Hinweisen sucht, hofft man inständig, dass das Blutvergießen bald aufgeklärt wird. Der Spannungsbogen in „Die verborgene Gabe“ schwankt. Meist kann man das Buch kaum aus der Hand legen – aus Sorge, die entscheidende Wendung könnte schon auf der nächsten Seite darauf warten, entdeckt zu werden. Catherine Egan gönnt ihren Charakteren jedoch auch die eine oder andere Verschnaufpause von den schrecklichen Ereignissen, in denen sie Zeit haben, sich in witzigen, ehrlichen oder emotionalen Begegnungen dem Leser näher vorzustellen. Auf diese Weise erhält man trotz der großen Vielzahl an unterschiedlichen Figuren einen guten Überblick über die facettenreichen Persönlichkeiten. Wer sich lieber durch atemlose und rasante Geschichten schmökert, bekommt im Auftakt der „Schattendiebin“-Trilogie ein paar Dämpfer aufgezwungen. Womit mich Catherine Egan absolut überzeugen konnte, war die Liebesgeschichte in „Die verborgene Gabe“, denn sie war in jeglicher Hinsicht ungewöhnlich. Weder verlief sie nach dem typischen Schema, noch bediente sie sich der klassischen Klischees. Im Gegenteil: Die Liebesgeschichte im Auftaktband der „Schattendiebin“ verläuft nicht nur rosarot und fröhlich, sondern auch erfrischend authentisch und durchaus problematisch. Für Julia dreht sich eben nicht alles nur um ihren Angebeteten, und deshalb nimmt die Liebesgeschichte einen relativ kleinen Teil innerhalb des Romans ein. Weniger aufwühlend ist sie deswegen aber keinesfalls. Entscheidend war für mich, dass Egan die Liebesgeschichte nicht einbaute, weil es sich nun einmal für das Genre gehört, sondern weil Julia eben diese Erfahrung brauchte und auch machen musste, um zu der zu werden, die sie ist. Die viktorianisch angehauchte Welt, in der die „Schattendiebin“-Trilogie spielt, ist komplex, mysteriös und gar nicht so leicht zu durchschauen. Sie hat ihre eigenen Gesetze, ihre eigenen Legenden, die einerseits faszinieren, mir andererseits allerdings zu wenig beleuchtet wurden. Viele Fragen bleiben ungeklärt und machen Lust, direkt zum nächsten Band zu greifen, ohne dass ein fieser Cliffhanger einen dabei halb in den Wahnsinn treibt! Nach der letzten Seite hat man Julia und ihre merkwürdig zusammengewürfelte Familie in sein Herz geschlossen, mit all ihren Ecken und Kanten – sofern man ihnen die Chance gegeben hat, sich zu beweisen. Fazit: „Die verborgene Gabe“, der Auftakt der „Schattendiebin“-Trilogie von Catherine Egan, erzählt die Geschichte der jungen Diebin Julia, die in einer Welt, in der Magie den Tod bedeutet, die Fähigkeit besitzt, sich unsichtbar zu machen. Für mich war dieser Trilogie-Auftakt eine großartige Überraschung, denn Egan hat zwischen den Buchdeckeln einen geheimnisumwobenen und mystischen Roman versteckt, der sich traut, anders zu sein. Neben der atmosphärischen Handlung sind es vor allem die markanten Charaktere, die das Buch so besonders machen. Protagonistin Julia ist kein liebes, talentiertes Mädchen, sondern eine vom Schicksal geprägte Diebin, die schwere, unverzeihliche Fehler macht. Die Konsequenzen ihrer Entscheidungen fordern ihre Opfer, lassen sie als Protagonistin jedoch auf ungewöhnliche Weise wachsen. Wer sich fernab des Mainstreams auf eine außergewöhnlichere Trilogie einlassen möchte, die trotz ihrer Eigenständigkeit nicht den Flair eines fantasievollen Jugendbuches verliert, greift mit „Die verborgene Gabe“ zum richtigen Buch. Ein etwas holpriger Einstieg und ein für meinen Geschmack etwas zu schwach beleuchteter Weltenbau halten mich von der vollen Punktzahl ab, aber für „Schattendiebin – Die verborgene Gabe“ vergebe ich sehr gerne 4 Lurche.

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