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Simone Scamander

Posted on 1.2.2020

Worum geht's? 16. April 1874: Eine eisige Nacht, wie es sie noch nie gegeben hat, hält Edinburgh in Atem. Menschen, die bei dieser Kälte unterwegs sind, frieren ein wie Eisskulpturen, Vögel vereisen im Flug und der Fluss ist schon längst unbeweglich geworden. Dies ist die Nacht, in der Jack geboren wird. Auch sein winziges Herz kann sich nicht gegen die kalten Temperaturen wehren und schlägt viel zu langsam, um ihn am Leben zu halten. Deshalb sieht die Hebamme, Doktor Madeleine, die den Jungen später aufziehen wird, nur eine Chance: Sie setzt Jack eine Kuckucksuhr in die Brust, die mit ihrer Mechanik sein Herz am Schlagen hält. Er muss die Uhr nicht nur jeden Tag neu aufziehen, sondern auch strenge Regeln befolgen, um das zerbrechliche Uhrwerk nicht zum Bersten zu bringen. Die wichtigste von ihnen besagt, dass Jack sein Herz niemals verschenken darf. Doch dann lernt er an seinem zehnten Geburtstag die hinreißende Tänzerin Miss Acacia kennen - und schon ist es um ihn geschehen. Seine Gedanken drehen sich nur noch um das flammende Mädchen. Obwohl diese Liebe ihn sein Leben kosten könnte, setzt Jack alles aufs Spiel, um Miss Acacia näher zu kommen... Kaufgrund: Auf "Die Mechanik des Herzens" wurde ich durch das wunderschöne Cover aufmerksam. Ich war sofort hin und weg und spürte instinktiv: Dieses Buch ist ganz nach meinem Geschmack! Meine Meinung: Man hat nicht einmal ganz die erste Seite verschlungen, da ist es bereits um den Leser geschehen: Er ist verliebt, verliebt in die poetische und wortgewaltige Sprache des Autors. Jeden Satz möchte man am liebsten gleich zwei Mal lesen, um ihn erneut auf sich wirken zu lassen. Mathias Malzieu ist ein Künstler, ein Magier der Worte, denn mit seinen bildhaften Metaphern und seinen inspirierenden Umschreibungen zaubert er seinem Leser detailgetreue Szenen in den Kopf. Er lässt einen Film vor dem inneren Auge abspielen, der einen alles um sich herum vergessen lässt. Man ist von der verträumten und zugleich melancholischen Atmosphäre, die Malzieu heraufbeschwört, so gebannt, dass man "Die Mechanik des Herzens" nicht mehr aus der Hand legen kann. Obwohl das Märchen nicht einmal 200 Seiten fasst, schafft es Malzieu mit spielerischer Leichtigkeit, eine enge Verbindung zwischen seinen Charakteren und seinen Lesern zu knüpfen. Was anderen Autoren über mehrere hundert Seiten nicht gelingen mag, vollbringt er innerhalb kürzester Zeit: Er haucht seinen Figuren Leben ein und macht sie einzigartig, unverwechselbar. Malzieu gibt ihnen die Schlüssel zu den Herzen der Leser und kein einziger von ihnen scheut davor zurück, den Schlüssel zu nutzen, das Innerste der Leser zu öffnen und mit einem Teil der eigenen Persönlichkeit für alle Zeit in deren Herzen einzuziehen. Malzieus Charaktere sind etwas Besonderes, etwas Außergewöhnliches, an das man noch lange denkt und nicht so schnell vergisst. Allen voran ist Jack, der junge Protagonist des Ausnahmeromans, den man von Geburt an auf seinem Lebensweg begleitet. Obwohl er es nie leicht hatte und früh lernen musste, was es heißt, anders zu sein und abgewiesen zu werden, trägt er sein Herz mitsamt unterstützender Kuckucksuhr am rechten Fleck. Für die Menschen, die er liebt, würde er alles tun, egal, was es für ihn selbst bedeuten würde. Deshalb macht er sich auch auf die Suche nach seiner großen Liebe, Miss Acacia. Jack möchte sie glücklich machen, seinem zarten Vöglein mit den schlechten Augen einen Strauß voll Brillen schenken, obwohl ihm bewusst ist, dass er damit sein eigenes Leben riskiert. Jack ist ein selbstloser, liebenswürdiger, hinreißender und loyaler Protagonist, der mich mit seiner bedingungslosen Liebe zutiefst beeindruckt hat. Einzig Jacks Liebe, die junge Sängerin und Tänzerin Miss Acacia, wollte keinen festen Platz in meinem Herzen finden. Zu Beginn war ich von der bezaubernden, zerbrechlichen Schönheit ebenso fasziniert wie Jack. Mit ihrer unschuldigen Art und ihrem sanften Gemüt, ihrer Leichtigkeit, hat man Miss Acacia auf Anhieb gern und möchte nur noch sie an der Seite des liebenswürdigen Protagonisten sehen. Doch je weiter die Geschichte voranschreitet, desto mehr beginnt man, an ihr und ihrem Charakter zu zweifeln. Zu viele Ungereimtheiten und unglaubwürdige Handlungen lassen nicht nur mich, sondern auch Jack mit einem unguten Gefühl zurück, das stetig weiterwächst, bis ihre Glaubhaftigkeit schließlich endgültig von der Last der Zweifel erdrückt wird. Ob Miss Acacia diese Einschätzung nun verdient oder nicht, mit ihren Taten hat sie sich selbst zu einer distanzierten, fremden Figur gemacht, die leider eher negativ als positiv im Gedächtnis des Lesers bleibt: eitel, selbstbezogen, unglaubwürdig und unberechenbar. Neben dem passenden, malerischen Schreibstil des Autors und den herausragenden Charakteren besticht "Die Mechanik des Herzens" vor allen Dingen mit seiner Geschichte, denn dieses Märchen hat alles, was man sich als Fan des Genres nur wünschen kann. Malzieu hat aus einer großen Portion Fantasie mit einer kleinen, aber dennoch nicht unwichtigen Prise Realität pure Magie erschaffen, die uns als Leser emotional völlig gefangen nimmt. Wir lassen uns von der Liebe in der Geschichte selbst betören, leiden unter den Wendungen des Schicksals und versinken völlig in der Melancholie des Märchens. Obwohl "Die Mechanik des Herzens" so skurril und sonderbar ist, können wir darin doch viel Wahres erkennen, das uns zum Nachdenken bewegt. Denn sie erzählt von der Liebe, ihren hellen und ihren dunklen Seiten und vor allen Dingen von ihrer Macht, die sie auf die Menschen hat. Die Bezeichnung "Märchen für Erwachsene" möchte ich ausdrücklich noch mal betonen. Auch wenn der Protagonist während des Romans heranwächst und die meiste Zeit als Kind oder Jugendlicher verbringt, ist "Die Mechanik des Herzens" definitiv nicht für ein junges Publikum geschaffen. Es werden einige Kraftausdrücke benutzt, es fließt eine Menge Blut und es werden sogar Augen ausgestochen. "Na und?", werden sich nun sicherlich einige denken, schließlich geht es in den Märchen der Gebrüder Grimm kaum anders zu und die werden Kindern immerhin auch vorgelesen. Diese Wagemutigen, die Malzieus Buch trotz meiner Warnung kleinen Lesern reichen, bitte ich um einen kurzen Kommentar, wie sie mit der Erklärungsnot umgegangen sind, als nach der Bedeutung des Hamsternamens "Cunnilingus" gefragt wurde. Ich bin gespannt! Übrigens: Es gibt sogar einen Soundtrack zu diesem wundervollen Märchen, denn Mathias Malzieu und seine Band haben ein gleichnamiges Album aufgenommen, das die Geschichte durch Musik erzählt. Cover: Grandios! Fantastisch! Ein Meisterwerk! Ich könnte es den ganzen Tag anschauen und es würde mich noch immer begeistern! Fazit: "Die Mechanik des Herzens" ist ein phantastisches, skurriles und außergewöhnliches Märchen, das alle Fans von Tim Burton und Lewis Carroll begeistern wird. Diejenigen, die nicht viel mit dem Sonderbaren anfangen können, werden wohl eher nicht vom melancholischen Charme des Ausnahmedebüts gefangen genommen werden. Ich war und bin noch immer in dieses Buch verliebt und deshalb gibt es 5 Lurche!

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