Simone Scamander
Worum geht's? Seit Nino Sorokin als kleines Kind einen Autounfall überlebte, bei dem er seine Eltern sterben sah, weiß er, wann für Menschen die Zeit gekommen ist. Ein kurzer, konzentrierter Blick genügt und er weiß, wann jemand ums Leben kommen wird. Auch das Datum seines eigenen Todes hat er gesehen - und der rückt immer näher und näher: Mit nur 24 Jahren wird für ihn das Leben vorbei sein. Verzweifelt versucht er, einen Ausweg zu finden und sein Schicksal zu überlisten. Es muss doch einen Weg geben! Als er eines Abends auf einer Party Monsieur Samedi begegnet, der durch das Gläserrücken Kontakt zu den Toten aufnimmt, scheint er eine Lösung gefunden haben. Der ominöse Mann scheint tatsächlich zu wissen, wie Nino seinem Tod entfliehen kann. Doch Nino begeht einen schweren Fehler: Er verliebt sich in die schweigsame Noir, die eine seltsame Beziehung zu Monsieur Samedi hat - eine Beziehung, die weit über den Tod hinausgeht... Kaufgrund: Durch die Blog-Tour von Rowohlt und Jenny-Mai Nuyen bin ich auf das neue Werk der Autorin aufmerksam geworden: "Noir". Allein der Titel des Buches hat es schon geschafft, meine Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Das grandiose Cover und der aufregende Klappentext taten ihren Rest und setzten meine Erwartungen sehr hoch. Meine Meinung: "Noir", das neue Werk der Ausnahmeautorin Jenny-Mai Nuyen, ist ein mystischer Roman, der das Interesse seiner Leser schon nach wenigen Seiten fest im Griff hat. Grund dafür ist der merkwürdige Aufbau des Buches, den die junge Autorin sich ausgedacht hat: Sie erzählt die Geschichte aus zwei verschiedenen Perspektiven. Während in der einen, die in der Gegenwart spielt, der Leser direkt angesprochen wird und als stiller Beobachter mit in das Geschehen eingebunden wird, schildert in der anderen ein außenstehender Erzähler von Ninos Leben vor dem "Jetzt". Nuyen erlaubt ihren Lesern Stück für Stück tiefere Einblicke in das, was noch geschehen wird, und das, was bereits vergangen ist. Zunächst ist nicht ganz klar, in wie fern die zwei Teile der Geschichte miteinander verbunden sind, wie sich aus der Vergangenheit die Gegenwart entwickeln wird, und genau darin liegt der Reiz des Romans. Als Leser möchte man wissen, worin die Verbindung zwischen den komplexen Handlungsstücken besteht. Man möchte die einzelnen Scherben aufsammeln und zusammensetzen, um das Gesamtbild betrachten zu können. Und vor allen möchte man wissen, was geschieht, wenn die zwei Teile der Geschichte ineinander verlaufen... Nino Sorokin ist ein außergewöhnlicher Protagonist. Auf den ersten Blick ist es natürlich seine Gabe, die ihn so interessant macht: Seit Nino den Autounfall, bei dem seine Eltern ums Leben kamen, knapp überlebte, kann er den Tod vorhersehen. Er sieht, wann die Menschen um ihn herum sterben, und auch, wann für ihn die Zeit gekommen sein wird. Er weiß, dass er bereits mit 24 Jahren das Zeitliche segnen wird - und um sich selbst zu beweisen, dass seine Fähigkeit nicht bloß ein Hirngespinst ist, hat Nino schon so manches Experiment an seinem Körper durchgeführt. So hat zum Beispiel mit 19 Jahren versucht, sich die Pulsadern aufzuschneiden. Angst verspürte er nicht; schließlich wusste er, dass er noch nicht sterben würde. Und tatsächlich - er überlebte. Allerdings nicht ganz ohne Konsequenzen: Seine Schwester verfrachtete ihn sofort zum Psychologen. Seine Gabe ist also nichts, was den jungen Protagonisten etwas Positives bringen würde. Im Gegenteil, sie bringt ihm bloß Kummer, Verzweiflung und Trauer. Sie hetzt ihn, macht ihn zu einem schwermütigen und distanzierten Mann, der die Welt völlig anders wahr nimmt als seine sorglosen Partyfreunde. Sein anstehender 24. Geburtstag lässt ihn mit jeder Minute wahnsinniger werden, doch zugleich findet sich Nino immer besser mit seinem Schicksal ab. Nino ist viel mehr als bloß seine Gabe; er ist ein zwiegespaltener Protagonist mit einer komplizierten und facettenreichen Persönlichkeit. Mir gefiel sein melancholischer Charakter, der so viele Gegensätze in sich vereint, ausgesprochen gut, aber identifizieren konnte - oder wollte? - ich mich mit Nino nicht. Als Nino die schweigsamen Noir trifft, ändert sich sein Leben von Grund auf. Er verspürt bereits bei ihrer ersten Begegnung, dass zwischen ihnen eine gewisse Verbindung besteht, dass ihre Schicksale untrennbar miteinander verwoben sind. Es ist eine zärtliche Anziehungskraft, die Nino immer wieder zu Noir treibt, die ihn jedoch mit ihrer kühlen Art nicht an sich heranlässt. Er weiß, dass es besser wäre, die Finger von dem seltsamen Mädchen zu lassen, aber sein Herz siegt über seinen Verstand: Er ist bereits viel zu verliebt, um Noir jemals vergessen zu können. Langsam und ruhig entwickeln sich die Gefühle der zwei Charaktere, doch kaum erhält der Funken die Möglichkeit dazu, entfacht aus ihm ein loderndes Feuer der Leidenschaft. Tja, es könnte so schön sein, aber "Noir" ist kein gewöhnlicher Roman und Noir ist kein normales Mädchen. Denn sie umgibt ein magisches Geheimnis, ein schier unveränderliches Schicksal, dass das verliebte Pärchen auf eine harte Probe stellt. Diese Liebesgeschichte ist alles andere als einfach, aber sie hat das alles entscheidende Etwas, das die Leser trotz der schwierigen Entwicklungen überzeugen kann: Gefühl! In ihrem neuen Werk traut sich Nuyen erstmals an eine urbane Szenerie. Ihre Figuren müssen sich nicht durch eine völlig fremde, phantastische Welt schlagen, sondern werden mitten in Berlin Zeugen des Unfassbaren. Die junge Autorin integriert die obskure Magie so selbstverständlich in die reale Welt, dass man sich tatsächlich zu gruseln beginnt. Nino Sorokin, seine Freunde und die flüchtigen Bekanntschaften, auf die der stille Protagonist trifft, rücken Gläser, um von den Toten Antworten zu bekommen. Ein Tropfen Blut genügt, um den Kontakt herzustellen, und eine seltsame Droge namens "STYX" macht die Teilnehmer sensibler, aufmerksamer und aufnahmefähiger für die magischen Schwingungen. Das Gläserrücken an sich ist schon schaurig genug, doch die Präsenz dieser Tätigkeit im realen Leben ist es, die es Stimmung furchterregend werden lässt. Welcher neugieriger Teenager hat in seinem Leben nicht wenigstens darüber nachgedacht, auf diese Weise die Toten zu kontaktieren? Kann nicht jeder Erwachsene nur noch müde über solche Scherze lächeln? Auch Nino kann diese altmodische und bizarre Art der Magie zunächst nicht ernst nehmen. Doch er muss mit Schrecken erkennen, dass hinter dem Gläserrücken, hinter den Seelen der Menschen viel mehr als bloße Philosophie steckt - eine düstere Kraft... Ob ich nun zum Schluss die erhofften Antworten auf meine Fragen bekommen habe? Ob ich "Noir" wohl völlig verstanden, jede Andeutung und jeden noch so kleinen Wink erkannt, jedes Puzzleteil zusammengesetzt habe? Nun, das wage ich stark zu bezweifeln. Jenny-Mai Nuyen klärt die Geschichte um Nino Sorokin zwar auf, allerdings auf eine sehr eigenwillige Art und Weise. Es ist kein eindeutiges Ende, sondern eines von jener Sorte, das zum Nachdenken anregt. Es gibt verschiedene Möglichkeiten, die letzten geschriebenen Sätze der Autorin zu interpretieren, oder die Handlung weiterzuspinnen. Ich mochte diese bizarre, mystische Auflösung, die einem noch lange nach der letzten Seite im Kopf herumspukt, kann mir aber durchaus vorstellen, dass viele Leser eher frustriert als begeistert sein werden. Nach über 300 Seiten der Ungewissheit wären ein paar genauere Antworten wünschenswert gewesen; das kann ich auch als Befürworterin des skurrilen Endes nicht abstreiten! Jenny-Mai Nuyens Schreibstil ist das große Highlight ihres Romans und hat mich schlichtweg sprachlos gemacht. Es ist unglaublich, was sie mit ihren Worten alles erreichen kann. Sie schafft eine fremde Welt, der man sich nicht entziehen kann, obwohl sie einem mit ihrer distanzierten, kühlen und schauriges Stimmung ein ungutes Gefühl vermittelt. Sie kreiert einen Ort, an dem man sich nicht geborgen fühlen kann, aber trotzdem möchte man dort bleiben und sich von der Melancholie gefangen nehmen lassen. Nuyens Schreibstil ist so poetisch und philosophisch, er birgt so viel Gefühl, dass man kaum glauben mag, dass er aus der Feder einer erst vierundzwanzigjährigen Autorin stammen soll. Sie ist eine Sprachkünstlerin, eine Wortmalerin, die die atmosphärischen Szenerien nicht in den Kopf, sondern direkt in das Herz ihrer Leser skizziert. Cover: Ein springendes Glas, Scherben, schwarz und weiß. Die Grafiker hätten das Cover zu "Noir" kaum treffender gestalten zu können. Ich bin absolut begeistert! Die Risse im Glas sind übrigens auch auf dem Cover "fühlbar"... Fazit: "Noir" ist ein bizarrer und melancholischer Roman, in dem es um Leben und Tod geht. Fiktion und Realität werden von der jungen Autorin so eng miteinander verknüpft, dass man gar nicht mehr weiß, wohin man mit den eigenen Gedanken soll. Die Geschichte um den jungen Nino Sorokin, der den Tod vorhersehen kann, ist außergewöhnlich und speziell und wird viele Leser mit gemischten Gefühlen zurücklassen. Weiterempfehlen kann ich "Noir" daher nur an jene Leser, die an obskuren Geschichten gefallen finden. Handlung, Charaktere, Schreibstil und Atmosphäre haben mir persönlich allerdings so gut gefallen, dass ich gerne 4 Lurche vergebe.