Profilbild von Simone Scamander

Simone Scamander

Posted on 1.2.2020

Worum geht's? Konrad ist fort. Victor kann nicht fassen, dass all seine Bemühungen, all seine Opfer tatsächlich umsonst gewesen waren. Denn obwohl es ihm gelang, das Elixier des Lebens herzustellen, konnte er das Leben seines Bruders nicht retten. Diese irrsinnige Alchemie - nichts als Humbug! Voller Wut und Verzweiflung verbrennt Victor jedes einzelne Buch aus der Dunklen Bibliothek. Er will nichts mehr mit diesem Unsinn zu tun haben! Doch dann entdeckt Victor in den Trümmern ein seltsames Buch, das den Flammen widerstanden hat. Bei genauerer Betrachtung erkennt Victor, dass es gar kein Schriftwerk ist, sondern ein feuerfestes Behältnis aus Metall. Es beschützt ein Buch, das dem Leser den Weg ins Reich der Toten aufzeigt. Augenblicklich entflammt Victors Faszination und Leidenschaft, denn er wittert eine neue Chance, seinen geliebten Bruder wiederzusehen - und zurückzuholen. Zusammen mit seinen Freunden Elizabeth und Henry macht sich Victor auf die Reise ins Totenreich. Noch ahnen sie nicht, dass sie der Gefahr damit genau in die Arme laufen... Kaufgrund: "Düsteres Verlangen", der erste Band der "Frankenstein"-Neuerzählung von Kenneth Oppel, hat einen festen Platz in meinem Leserherz. Die Geschichte um Victor und seine Suche nach dem Elixier des Lebens hat mich fasziniert und begeistert und deshalb war es nur selbstverständlich, dass auch die Fortsetzung "Ein dunkler Wille" bei Erscheinen augenblicklich verschlungen werden musste. Meine Meinung: Das Abenteuer des jungen Victor Frankenstein geht weiter: Ein Monat ist vergangen, seit er seinen Bruder Konrad verloren und der Alchemie abgeschworen hat. Wut, Trauer und Verzweiflung haben sich in seinem Herzen eingenistet, sein Versagen belastet sein Gewissen. Doch dann entdeckt er ein Buch, das ihm den Zugang zum Welt der Toten verspricht, und Victor hat ein neues Ziel vor Augen. Sein Ehrgeiz entflammt erneut. Wird es ihm diesmal gelingen, Konrad zu retten? Getrieben von dem unbändigen Wunsch eines "Happy Ends" für die Frankenstein-Zwillinge ist man als Leser bereits nach den ersten Sätzen wieder völlig im Geschehen gefangen und kann das Buch nicht beiseite legen, ehe man eine Antwort auf diese Frage erhalten hat. Durch kurze Erinnerungen der verschiedenen Charaktere zu Beginn des Romans findet man auch nach einer langen Lesepause schnell wieder in die Geschichte hinein. Die Handlung legt rasch ein schnelles Tempo an den Tag, passt sich aber immer Victors Gemütslage an. Hat der ehrgeizige Protagonist eine neue Idee, die seinen Bruder retten könnte, überschlagen sich nicht nur seine Gedanken, sondern auch die Ereignisse, während es in seinen nachdenklichen Phasen eher ruhig zugeht. Erneut sind es vornehmlich die Gedankengänge des Protagonisten Victor, die einen als Leser so sehr an die Seiten fesseln. Durch Victor als Ich-Erzähler der Geschichte bekommt man einen eindringlichen und intensiven Einblick in seine Gefühle und Gedanken, die einen berühren und erschrecken, anziehen und abstoßen, vor allem aber faszinieren. "Ein dunkler Wille" unterscheidet sich stark von seinem Vorgänger "Düsteres Verlangen", denn diesmal schlägt Kenneth Oppel eine ganz andere Richtung ein. Es geht nicht mehr um naturwissenschaftliche Phänomene oder Alchemie, sondern um okkulte Techniken, die Victor den Zutritt zur Welt der Toten ermöglichen. Dies schlägt sich maßgeblich auf die gesamte Atmosphäre des Romans aus. Während man zwischen den Seiten versinkt, verspürt man zwar noch immer die gleiche Faszination und Spannung wie im ersten Teil der Reihe, doch nun definiert auch ein magischer und mysteriöser Ton die Stimmung des Buches. Dadurch erhält "Ein dunkler Wille" seinen ganz besonderen Reiz. Insgesamt hält sich der Autor nicht mehr ganz so stark an die Romanvorlage von Mary Shelley. Hat er im ersten Teil noch viele von Shelleys Ideen, Charakteren und Handlungssträngen detailgetreu übernommen und sie mit einer eigenen Geschichte verbunden, lässt er sich nun in "Ein dunkler Wille" mehr Freiheiten. Kenneth Oppel hat sich für die Handlung des zweiten Bandes einen eigenen, übersinnlichen Verlauf ausgedacht, der nur noch wenig mit dem Original "Frankenstein" zu tun hat. Trotzdem sind einige Parallelen zu erkennen, denn gänzlich trennt er sich nicht von Shelleys Romanvorlage; er geht bloß anders mit ihr um. Statt seinen Roman möglichst nah am Original entlangzuführen, wählt er nun gezielt einige Aspekte und Handlungsstränge aus "Frankenstein" aus und lässt sie geschickt in seine eigene Geschichte einfließen. Außerdem orientiert sich Kenneth Oppel nun noch an einer weiteren Erzählung. Denn was Kenneth Oppel für seine Geschichte an Hintergrundinformationen braucht, aber nicht in Mary Shelleys "Frankenstein" findet, entnimmt er jener Sage, die auch in Shelleys Original eine Rolle spielt: dem Mythos um Prometheus, dem Schöpfer der Menschen. Mit der letzten Seite ist auch die Handlung des Romans abgeschlossen, aber alle offenen Fragen sind damit leider nicht beantwortet. Als Leser werden einem dem Lesen noch einige Dinge im Kopf herumschwirren, deren Auflösung man gerne schwarz auf weiß auf den Seiten des Romans gefunden hätte. Ob Kenneth Oppel noch an einem dritten Band der Reihe schreiben wird, ist mir bisher nicht bekannt - aber ich drücke den anderen Fans von Victor und mir ganz fest die Daumen! Victor übernimmt auch im zweiten Band der Reihe die Rolle des Protagonisten und Erzählers. Er ist ein zwiespältiger Charakter, der mehr als ein Gesicht besitzt und nicht auf eine feste Persönlichkeit reduziert werden kann. In "Düsteres Verlangen" hat man den jungen Frankenstein zunächst als hitzköpfigen und impulsiven jungen Mann kennengelernt, der einem erst mit der Zeit sein Herz öffnete und sympathisch wurde. Diesmal ist es genau andersrum. In "Ein dunkler Wille" begleitet man den gefühlvollen Victor, der so sehr unter dem Tod seines Bruders leidet, dass man ihn kaum noch wiedererkennt. Doch als er erneut eine Chance wittert, Konrad zu retten, entfacht erneut sein Feuer. Gepackt von neuer Motivation, einem neuen Ziel vor Augen, stürzt Victor sich in die einladenden Arme der unberechenbaren Magie. Als Leser sorgt man sich schnell um ihn und seinen wankelmütigen Charakter. Wird er es diesmal schaffen, stark zu bleiben? Leidet er wirklich unter Konrads Tod - oder doch eher unter seinem eigenen Versagen? Und wann wird aus einer Leidenschaft Besessenheit? Das Reich der Toten lockt nicht nur Victor, auch Elizabeth und Henry scheinen seinem Reiz zu verfallen. Der neue Handlungsort lässt neue Seiten ihrer Persönlichkeiten zutage treten, denn er verändert sie, macht sie stärker, selbstbewusster, besser. Besonders Henry legt plötzlich Charakterzüge an den Tag, die man dem unsicheren Schreiberling niemals zugetraut hätte. Kenneth Oppel spielt mit seinen Charakteren, fordert sie heraus und bringt sie an seine Grenzen! (Anmerkung meinerseits: Obwohl Kenneth Oppel sich in diesem Band nicht so stark an die Romanvorlage hält, hat er sich trotzdem dagegen entschieden, den buckligen Diener Igor als Figur in sein Werk mit einfließen zu lassen. Schade...) Die Liebesgeschichte nimmt in "Ein dunkler Wille" einen größeren Part der Handlung ein; allerdings nicht so, wie man es vermuten könnte. Romantik spielt für Kenneth Oppel in seiner Reihe um die Frankenstein-Zwillinge nämlich nur bedingt eine Rolle. Vielmehr legt es der Autor darauf an, die verschiedenen Facetten der Liebe, ihre Konsequenzen und ihre Auswirkungen auf die unterschiedlichen Persönlichkeiten aufzuzeigen. Victor hat unter dem mächtigen Gefühl am meisten zu leiden: Wen liebt er mehr? Seinen Bruder Konrad - oder Elizabeth? Victor muss die Antwort auf diese prekäre Frage finden, denn sie wird es sein, die seine Entscheidungen für ihn trifft. Cover: Wow! Ich war bereits ein großer Fan des ersten Covers, aber dieses Titelbild gefällt mir noch viel besser! Erneut haben sich die Grafiker einen Tintenklecks ausgedacht, in dem die wichtigsten Personen des Romans zu finden sind. Außerdem erkennt man darin einen Schmetterling, jenes Wesen, dass eine wichtige Rolle in Victors zweitem Abenteuer einnehmen wird. Das kräftige Rot im Hintergrund kommt großartig zur Geltung und unterstreicht die mysteriöse Atmosphäre des Covers. Fazit: "Ein dunkler Wille", der zweite Band der Geschichte um die Frankenstein-Zwillinge von Kenneth Oppel, ist eine großartige Fortsetzung, die "Düsteres Verlangen" in nichts nachsteht. Obwohl die Handlung eine ganz andere Richtung einschlägt und der Autor nun eine mystische und magische Note in die Atmosphäre einwebt, bleibt es spannend und mitreißend. Auch die Charaktere überzeugen mit ihren neuen Facetten. Protagonist Victor ist und bleibt jedoch das Highlight der Reihe und kann den Leser mit den faszinierenden Einblicken in seine Psyche vollkommen an die Seiten fesseln. Ich vergebe sehr gute 4 Lurche und hoffe inständig, dass Kenneth Oppel an einem dritten Band schreiben wird!

zurück nach oben