Simone Scamander
Worum geht's? Die sechzehnjährige Tori Spring hat das Gefühl, dass sie sich zwischen Weltschmerz, Erfolgsdruck, dem Zwang, ihre Zukunft planen, sich selbst finden und jetzt eigentlich die beste Zeit ihres Lebens haben zu MÜSSEN, verliert. Dass sie kurz davor ist, zu zerbrechen an der Gleichgültigkeit der Welt. Dass sich daran auch im neuen Jahr nichts ändern, dass wieder nichts passieren wird. Und dann passiert doch etwas: Tori trifft auf Michael Holden. Eigentlich verkörpert Michael mit seinem Enthusiasmus und der schwarzen Hipster-Brille all das, was Tori verachtet, und dennoch ist sie fasziniert von seiner überschäumenden Lebensfreude und seiner Neugier auf die Welt. Und es gibt Solitaire, eine anonyme Schülergruppe, die seit Kurzem Toris Schule in Atem hält. Anders als alle anderen fragt Tori sich, was und wer wirklich hinter Solitaire steckt. (Quelle: dtv Verlag) Meine Meinung: „Solitaire“ ist der Debütroman der blutjungen Autorin Alice Oseman. Mit gerade einmal 17 Jahren schrieb sie die Geschichte um die nur wenig jüngere Victoria „Tori“ Spring, die sich mehr schlecht als recht durchs Leben quält. Tori hält nicht viel vom Leben und all seinen Pflichten. Sie hasst die Schule, verfolgt keine Hobbys, meidet engere Kontakte und würde am liebsten nur noch im Bett liegen und auf ihrem Blog über ihr klägliches Leben schreiben. Aber dann bekommt Tori plötzlich neue Mitschüler, darunter auch ihr ehemaliger bester Freund aus Kindertagen, und ein seltsamer Blog namens „Solitaire“ taucht im Netz auf. All das soll Toris Leben entscheidend verändern. Dass „Solitaire“ keine leichte Lesekost ist, von der man am Abend gerne noch ein paar Seiten als Einschlafhilfe nascht, wird einem noch innerhalb des ersten Kapitels klar. Die starke, seltsam kühle und doch sehr einnehmende Atmosphäre bricht über einen herein, kaum dass man das Buch aufgeschlagen hat, und sorgt für Verwunderung und Neugierde zugleich. Obwohl ich weder zu der Handlung von „Solitaire“ noch zu den Charakteren direkt einen Draht aufbauen konnte – im Gegenteil: Aus vielerlei Gründen war ich äußerst skeptisch! –, übten Alice Osemans Worte augenblicklich eine Faszination über mich aus, die mich stetig zum Weiterlesen drängelte. Ich wusste zu Beginn nicht, wie ich „Solitaire“ einschätzen sollte (und Teile von mir wissen es nach der letzten Seite noch immer nicht), aber eines war mir sofort bewusst: Dass dieser Roman etwas erschreckend ehrliches, surreal authentisches an sich hat, über das ich mehr erfahren wollte. Die Figuren aus „Solitaire“ sind allesamt mehr oder weniger schwierige Persönlichkeiten, deren Beweggründe entweder schwer zu ergründen oder kaum nachzuvollziehen sind. Leicht hat man es als Leser mit keinem von ihnen, aber Alice Oseman konfrontiert einen mit der gebündelten Melancholie, indem sie aus Tori nicht nur die Protagonistin, sondern auch die Erzählerin ihrer Geschichte macht. Wer nicht selbst mit Depressionen zu kämpfen hat(te) oder sich tagtäglich mit essentiellen Fragen um die Existenz überfordert fühlt, wird wohl starke Probleme mit Tori bekommen. Tori zieht einen mit ihrer extrem pessimistischen Einstellung runter, sobald man sich zu offen und intensiv mit ihr beschäftigt. Sonderlich überrascht war ich also nicht, als mir während des Lesens plötzlich bewusst wurde, dass ich selbst eine gewisse Distanz zu Tori aufgebaut hatte. Ich mag nicht oft einer Meinung mit Tori gewesen sein, dennoch hat mich ihre Gefühlswelt so bewegt, dass ich ganz unbewusst eine kleine Mauer geschaffen habe, um mich ab und an vor ihren bedrückenden, aber verdammt ehrlichen Gedanken zu beschützen. Alice Oseman schreibt vieles, was man über die Hintergründe wissen sollte, nicht wörtlich aus. Stattdessen erzählt sie viel über die Stimmung ihres Romans und über die feinen Handlungen und Dialoge ihrer Charaktere. Warum ist Tori eine depressive Pessimistin, die ihre Freunde ohne schlechtes Gewissen bewusst versetzt und die Schule so sehr hasst? Was ist das für eine bedrückende Familiendynamik, die den Alltag der Springs beherrscht? Was geht in den Köpfen der anderen Charaktere vor? Viele Antworten auf diese Fragen sind nicht deutlich ersichtlich, aber Alice Oseman liefert genügend Hinweise, damit sich aufmerksame Leser ihre eigenen Rückschlüsse ziehen können. „Solitaire“ ist für mich kein leichtes, aber ein mitreißendes Puzzle gewesen, das mich sehr zum Nachdenken bewegt hat. Im Laufe der Geschichte lernt man Tori und die anderen Charaktere immer besser kennen und verstehen. Man entwickelt ein Gespür für die kleinen Details, die in den Gesprächen und Entscheidungen liegen, und sieht vieles, über das man zu Beginn nur den Kopf geschüttelt hätte, auf einmal mit anderen Augen. Obwohl mich bis zur letzten Seite oft das Gefühl überkam, mich niemals vollkommen mit Tori identifizieren zu können, habe ich mehr und mehr gemerkt, dass sie mir als außergewöhnliche Protagonistin viel mit auf den eigenen Weg geben konnte. „Solitaire“ hat viel in mir bewegt – und nicht alles davon war positiv –, mich auch gegen meinen Willen über den Tellerrand schauen lassen. Es ist alles andere als ein fröhliches Buch, aber genau diese Melancholie und diese Skepsis sind es, die „Solitaire“ auf eine verrückte Art und Weise so lesenswert machen. Für die Handlung von „Solitaire“ treffende Worte zu finden ist alles andere als leicht. Denn trotz der klaren Rahmenhandlung um Tori und „Solitaire“, das als seltsamer Blog beginnt und sich zu einer wahren Katastrophe entwickelt, ist der Roman so viel mehr als eine bemitleidenswerte Teenie-Geschichte. Es ist ein ehrlicher Roman über das Leben und die Tücken des Schicksals, über die Schwierigkeiten des Erwachsenwerdens und des Erwachsenseins, über das „Sich-selbst-finden“ und das „Man-selbst-bleiben“. Man kann nicht leugnen, dass Alice Oseman vielem, was man im Alltag gerne zu ignorieren versucht, brutal authentisch auf den Nerv fühlt. Das mag einem nicht immer gefallen, aber das macht „Solitaire“ nicht weniger wahr. Fazit: Alice Oseman ist trotz ihres jungen Alters ein großes schriftstellerisches Talent – und ihr Debüt „Solitaire“ ist der perfekte Beweis dafür. Obwohl ich lange Zeit nicht einschätzen konnte, was ich selbst von dem Roman halten sollte, übten ihre Worte eine verblüffende Faszination auf mich aus. Ich wollte „Solitaire“ nicht mehr aus den Händen legen und wurde in eine erschreckend ehrliche und verdammt skurrile Geschichte geworfen, die mich mit undurchschaubaren Charakteren und einer extrem bedrückenden Atmosphäre in ihren Bann gezogen hat. „Solitaire“ ist wahrlich keine leichte, schöne Wohlfühl-Lektüre, die mir Spaß bereitet hat. Aber es ist definitiv ein Buch voller Weisheiten und Wahrheiten, die mich zum Nachdenken bewegt und begeistert haben. Für „Solitaire“ vergebe ich höchst melancholische 4 Lurche.