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Bris Buchstoff

Posted on 31.1.2020

Von wegen lahm .... River Cartwright hat es versemmelt, aber so richtig. Sein Upgrade zum ordentlichen Agenten mit Außeneinsätzen für den MI5 ist damit zunichte gemacht und es ist nur dem Einfluss seines legendären Großvaters zu verdanken, dass er den Dienst nicht gänzlich quittieren musste. Für ihn aber fühlt es sich kaum anders an, denn jetzt ist er einer der Slow Horses, einer der Loser, die in einem von außen unscheinbar aussehenden Haus irgendwo in London merkwürdigen Tätigkeiten nachgehen, damit die Stunden vergehen. Müll durchsuchen, ohne zu wissen, wonach gesucht wird, ist nicht eben seine Klasse. Slough House wird es genannt, ein Drecksloch in dem die in Ungnade gefallenen dahin vegetieren. Und neben River gibt es da noch so ein paar andere, die aus diversen Gründen von Regents Park aussortiert wurden, allen voran Jackson Lamb, der mysteriöse „Leiter“ der lahmen Gäule, den niemand so ganz richtig einschätzen kann, der aber über erstaunliche Fähigkeiten verfügen muss … "So viel soll schon einmal zu Anfang verraten werden: Slough House befindet sich weder in Slough, noch ist es ein Wohnhaus. Seine Eingangstür lauert in einer Nische zwischen Geschäftsgebäuden im Viertel Finsbury […] Ihre uralte schwarze Lackierung ist mit Straßendreck bespritzt, und durch das blinde Oberlicht darüber dringt kein Licht von innen heraus. Eine leere Milchflasche steht schon so lange davor, dass der Efeu sie an den Bügersteig gefesselt hat. Es gibt keine Klingel, und der Briefkastenschlitz gleicht einer vernarbten Wunde aus der Kindheit […] Es ist als wäre die Tür nur eine Attrappe und diente alleine als Puffer zwischen dem Laden und dem Restaurant. Man könnte tatsächlich tagelang an der Bushaltestelle gegenüber sitzen und niemals jemanden sie benutzen sehen." Die Slough House Serie um Jackson Lamb und seine Slow Horses besitzt im englischsprachigen Raum bereits eine große stabile Fangemeinde, hat Mike Herron doch den ersten Band, der durch den findigen Diogenes Verlag – erneut möchte man sagen – endlich auch ein deutschsprachiges Publikum finden wird, bereits 2010 veröffentlicht. Ich hatte das große Vergnügen, Mike Herron bei einer Lesung live erleben und etwas mehr über Jackson Lamb & Co. erfahren zu dürfen. Tatsächlich erstaunt hat mich die Tatsache, dass Herron selbst keine akribischen Recherchen bezüglich der Arbeitsweise der englischen Geheimdienste tätigte, sondern einfach mal lustig drauflosschrieb. Verwerflich ist das natürlich nicht, denn er schreibt ja Romane und die dürfen gerne fiktiv sein, was dabei jedoch wirklich frappiert ist, dass Herron von einer Lesung erzählte, nach der ein Gast ihn selbst etwas erschüttert zurückließ, indem er ihm versicherte, die Arbeitsweisen – einschließlich der Dependance im Slough House – sei ausnehmend gut getroffen, er wisse das, er sei selbst Mitarbeiter gewesen. Da sieht man mal wieder, dass Dichtung und Wahrheit sich häufig näher sind, als gedacht und manchmal sogar als gewollt. Die Serie – auf deren zweiten Band ich nun schon ungeduldig warte – besticht durch ihre Figuren, den zackigen Schreibstil, die witzigen und pointierten Dialoge und eine gut ausgedachte, verschachtelt vorankommende Handlung, bei der die Sprünge zwischen den einzelnen Handelnden und den Orten häufig erst einmal durch den / die Leser*in dechiffriert werden müssen. „Slough“ ist im englischen ein Wort, das sowohl einen aktiven wie auch einen passiven Charakter annehmen kann. Einerseits meint es das, was mit den ausgemusterten Agenten bei Herron passiert: sie werden abgeschoben, man wird sie los; andererseits ist slough auch das Wort für sich häuten, etwas abstreifen. Das Slough House kann ein Tümpel, ein Drecksloch, eine Schlangengrube sein, in dem sich die vom MI5 Ausgestossenen tummeln, gleichzeitig bietet es aber auch eine Möglichkeit der Weiterentwicklung für die Ex-Agenten, indem sie ihre alte Haut abstreifen und die Bestrafung, die sie durch die Versetzung erlitten, nutzen, um gewisse, wahrscheinlich unrechtmäßige, Vorgehensweisen aufzudecken. Eine mehr als clevere Ausgangslage, die sich Herron hier ausgedacht hat. Ebenso clever treibt er die Handlung voran. Immer im Dunkeln bleiben dabei die Beweggründe, die dazu führten, dass Jackson Lamb, der scheinbar absolut abgehalfterte und völlig unmotivierte „Leiter“ des Slough House eben dieser wurde. Sicher, gegen Ende des ersten Teils wird dieser Nebel etwas gelichtet, doch so ganz hundertprozentig einschätzbar wird Lamb nicht. Und das ist auch gut so. Die einzelnen Mitglieder der Slow Horses werden peu à peu ins Visier genommen und ob ihrer Schwächen – Stärken kommen erst später zu Tage – die sie scheinbar wie eine Tarnung einsetzen können, ausgelotet. Den Leser*innen näher gebracht. Das funktioniert gut, im Falle von River Cartwright, der aus den übrigen Gruppenmitgliedern dieser Vereinigung der Loser schon deshalb heraus sticht, weil sein Faux pas den Einstieg in den Roman bildet, aber auch weil er eben vom Können her ein Agent ist, Upgradeverfehlung hin oder her. Die große Qualität dieses sowohl spannenden, als auch selbstironisch witzigen Agentenromans ist die klare Struktur, mit der er ausgearbeitet wurde und die dennoch nicht zur frühzeitigen Auflösung führt. Der Einstieg in die Geschehnisse erfolgt direkt, nach und nach erhält die Leserschaft mehr Informationen über persönliche Hintergründe, der Blick von außen, durch den man sich dem Slough House nähert ist wie in filmischer Zeitlupe umgesetzt, die sich zum Schluß wiederholt, allerdings mit neuen Vorzeichen und einem Ausblick auf mehr. Kein klassischer Cliffhanger, der häufig zu Unmut führt, wenn die Buchdeckel zugeklappt werden, sondern ein wohlgewählter gleichzeitiger Rück- und Ausblick. Mick Herron hat einen neuen Fan, der zweite Band – im Original bereits zahlreich ausgezeichnet – wird heiß erwartet und der erste zur Lektüre ebenso heiß empfohlen. "Genug: Unsere Beobachterin drückt, falls sie geraucht haben sollte, ihre Zigarette aus und schaut auf die Uhr, falls sie eine trägt. Dann steht sie auf und kehrt auf dem Weg zurück, den sie gekommen ist: den gepflasterten Weg entlang, über die Fußgängerbrücke, die Treppe an der Haltestelle Barbarican hinunter und dann auf die Aldersgate Street. Regen liegt in der Luft, wie scheinbar immer in dieser Ecke. Und sie hat keinen Schirm dabei. Egal. Wenn sie schnell genug geht, kann sie ihr Ziel erreichen, ohne nass zu werden. Und falls jemals eine neue Beobachterin auftaucht, steigt sie vielleicht sogar in einen Bus."

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