Bris Buchstoff
Agenten können Fehler machen. Sollten sie zwar nicht, aber sie tun es. Das hat natürlich, wie bei jedem anderen Menschen auch, Konsequenzen –allerdings weitaus gravierendere als bei anderen Menschen. Und manchmal genügt es sogar, wenn jemandem in Regents Park die eigene Nase nicht passt oder man zu viel weiß, um ein sogenanntes Slow Horse, ein lahmer Gaul, zu werden. Doch so lahm, wie der Name glauben macht, sind die in Ungnade gefallenen früheren MI5 Mitarbeiter lange nicht. Unter der Ägide des scheinbar völlig gelangweilten Jackson Lamb fristen sie ein zwar eher tristes Agentendasein im Slough House, doch seitdem sie in einen Fall verwickelt wurden, der sie alle persönlich betraf, hat sich etwas verändert. Die Fassade des Slough House allerdings bleibt dieselbe. „Keiner betritt Slough House durch die Vordertür; seine Insassen gehen durch einen schmuddeligen Hof mit schimmeligen Mauern und durch eine Tür, die Morgens zumeist einen energetischen Tritt erfordert, wenn Feuchtigkeit, Kälte oder Hitze sie verzogen haben. Mick Herron, der in begnadeter Art und Weise Bilder vor den Augen seiner Leserinnen erstehen lassen kann, lässt eine Katze, die es ja gewohnt ist, leise zu schleichen, niemandem aufzufallen, wenn sie das nicht möchte, diese Hintertür mit ihren geschickten Pfoten sanft und leise öffnen. Mit ihr gemeinsam huschen wir hinein und sehen uns in den einzelnen Räumen um – eine geniale Einführung des Personals für Leserinnen, die den ersten Band der Reihe um Jackson Lamb und seine Truppe von in Ungnade gefallenen MI5 Agenten nicht kennen. Knapp aber treffend charakterisiert er die einzelnen Personen bis hinauf zum schmuddeligen, eher unsympathischen Leiter dieser Nebenabteilung des britischen Geheimdienstes, der, zwar ein Zyniker vor dem Herren ist, dennoch aber für seine Truppe alles tun, genau das niemals zugeben würde. Doch nicht nur im Slough House gibt es ehemalige Agenten. Auch auf Londons Straßen sind sie unterwegs – und wer einmal ein richtiger Agent war, der kann gewisse Verhaltensweisen sein Leben lang nicht mehr abschütteln. So passiert es auch, dass Dickie Bow, den Lamb noch aus gemeinsamen Zeiten in Berlin kennt, einer Spur folgt, die – wie sich später herausstellt – vor allem Lamb an den Haken kriegen soll. Bow wird leider nicht mehr mitbekommen, was er da aufgedeckt hat, aber Herron entwickelt auf dem Hintergrund des kalten Krieges, des Mauerfalls und der daraus entstehenden Konsequenzen einen spannenden Agentenroman, der seine großen Stärken in einer sehr britisch-witzigen Dialogführung und verschachtelten Erzählsträngen hat. Mancher Leserin mag das vermeintlich zu wenig Action beinhalten und deshalb langweilig erscheinen, ich jedoch liebe und bewundere es, wenn das Hirn die Muskeln spielen lässt und clever agiert wird. Und das ist bei Dead Lions sowohl hinsichtlich der Struktur des Romans als auch inhaltlich der Fall. Dabei zeigt Mick Herron sehr smart und denkbar einfach, was so alles passieren kann, wenn im Hintergrund groß angekündigter öffentlicher Ereignisse jemand die Fäden spinnt und dabei ganz andere Ziele im Blick hat, als die öffentlich angepeilten. Da wird eine groß angelegte Demonstration dermaßen unterminiert, dass an ihrem Ende pures Chaos entsteht und den Demonstranten Dinge angelastet werden, die gar nicht passiert wären, hätte man als Regierungsvertreter anders reagiert. Ein Versteckspiel der besonderen Art – im Englischen heißt es Sleeping Lions – wird auf mehreren Ebenen abgehalten. Innerhalb des M5, zwischen dem MI5 und dem Slough House, zwischen Öffentlichkeit und Geheimdienst bzw. Regierung … überall in London werden Dinge vertuscht, Fehler versteckt, Intrigen gesponnen. In den Cotswolds, wohin es River Cartwright – den Neuzugang bei den Slow Horses aus dem ersten Band der Reihe – verschlägt, da bleibt fast alles beim Alten. Während River in der typisch britischen Kleinstadt versucht herauszufinden, ob und wenn ja, wer von den Einwohnern eventuell russische Schläfer sein könnten, ist Jackson Lamb mit tatkräftiger Unterstützung von Catherine Standish, der einzigen Mitarbeiterin, die seine Art einfach an sich abtropfen zu lassen scheint, bemüht, herauszufinden, ob es die Cicadas, wie die Schläfer auch genannt werden, überhaupt geben kann. Vom kalten Krieg, über Berlin hin zur Stopp the City Bewegung in London verknüpft Herron die Einzelteile seines Plots bravourös miteinander. Die tatsächlichen Beweggründe vieler Aktionen sind für die Leserinnen nicht zu erraten, der Spannungsbogen wird langsam aber sicher aufgebaut und bis zum Ende gehalten. Die Handlung, wird in den einzelnen Kapiteln über mehrere Stränge vorangetrieben, die jedoch nie verwirrend sind und ein wunderbar vielschichtiges Bild ergeben, das erstaunlich authentisch wirkt. Bereits im ersten Band um Jackson Lambs Truppe zeigte sich, wie ein sprachlich feiner – von Pocaio bravourös ins Deutsche übertragene – smart konstruierter (und hier meine ich konstruiert im Sinne von gebaut und nicht im Sinne von an den Haaren herbeigezogen), witziger Agentenroman sein muss. Das hat Charme, Witz und Klasse. Unbedingte Leseempfehlung von mir – vor allem wenn man als Leserin Hirn- vor Muskelmasse bevorzugt. Jackson Lamb hat zum Ende des Romans noch eine Eingebung, was dem Slough House fehlt … ob das aus den vergangenen Geschehnisse entspringt oder tatsächlich nach vorne zeigt, wird sicherlich in Band drei der Reihe klar werden. Ich freue mich sehr darauf. „In seine Gedanken versunken, greift Jackson Lamb blindlings nach irgendetwas, wahrscheinlich nach seinen Zigaretten, und da seine suchenden Hände nichts finden, öffnet er die Augen. Und dort vor ihm – Schnauze bebend, Schnurrhaare zitternd – sitzt eine Maus. Für einen Moment hat Lamb das unangenehme Gefühl, dass diese Maus in eine Vergangenheit starrt, die er zu begraben versucht hat, oder in eine Zukunft blickt, die er lieber vergessen würde. Und dann blinzelt er, und die Maus ist verschwunden, falls sie jemals dagewesen ist. „Was dieses Haus braucht, ist ’ne Katze“ murrt Lamb, aber es ist niemand da, der ihn hört.