Glitzer
„Strafverteidigung ist Pokern mit dem Schicksal eines Menschen. Und du bist als Verteidiger permanent »All In«.“ (Veikko Bartel im Vorwort von Mörder) Worum geht’s? Wie bereits das Buch „Mörderinnen“ handelt auch das Buch „Mörder“ von Fällen aus der beruflichen Laufbahn des Autoren Veikko Bartel als Strafverteidiger. In zahlreichen Tötungsdelikten hat er Leute vertreten, die das schlimmste Verbrechen unseres Gesetzbuches begangen haben: Sie haben getötet. Nachdem bei „Mörderinnen“ Frauen auf der Anklagebank saßen, geht es in diesem Buch um sechs Fälle mit männlichen Angeklagten, um einzigartige Einblicke in die Arbeits- und Gedankenwelt eines Strafverteidigers und die ewig währende Frage: Wieso töten Menschen? Denn der Autor erzählt hier die Geschichten der jeweiligen Tat und ihrer Umstände. „Mörder“ ist unabhängig vom Vorgänger-Buch „Mörderinnen“. Schreibstil / Gestaltung Auch das Cover von Mörder besticht wieder durch ein schlichtes, unaufdringliches – wenngleich auch etwas klischeehaftes - Cover mit einem schemenhaften Gestalt in schwarz mit Kapuze und dem üblichen Hinweis „Fälle aus der Praxis eines Strafverteidigers“. Man erkennt auf jeden Fall die Stimmigkeit im Verhältnis zu Mörderinnen und empfindet auch hier ein nüchterne, sachliche Atmosphäre ohne viel Brimborium. Das Buchcover ist erneut ein Schutzumschlag, unter dem sich dieses Mal ein schönes, mattschwarzes Buch mit dem weißen Schriftzug des Titels und Autors am Buchrücken verbirgt. Insgesamt ist die Gestaltung erneut sehr stimmig. Das Buch umfasst insgesamt sechs Fälle, die in jeweilige Abschnitte gegliedert sind und dem ein äußerst kurzes Vorwort (im Vergleich zu Mörderinnen) vorgestellt ist. Die jeweiligen Fälle haben keine eigene Untergliederung in Unterabschnitte, werden jedoch teilweise mit einem kurzen Epilog abgeschlossen. Jeder Fall ist in sich geschlossen und kann somit eigenständig gelesen werden. Der Umfang der Fälle variiert von etwa 25 bis 60 Seiten. Sprachlich überzeugt Mörder wie auch bereits Mörderinnen durch einen angenehmen Schreibstil, eine verständliche Erzählweise und der gut ausgeprägten Fähigkeit des Autors, mit Sprache umgehen zu können. Die Gratwanderung zwischen spannendem und einfühlsamem Bericht gepaart juristischen Erklärungen gelingt hervorragend. Mein Fazit Wo fängt man an, wo hört man auf, wenn man über dieses Buch reden möchte. Ich habe unzählige Real Crime Bücher gelesen, ich bewege mich beruflich in genau diesem Bereich und dachte, dass Veikko Bartel „Mörderinnen“ kaum toppen kann. Und doch saß ich hier, mit einem Buch, welches mich weit über die Lesezeit hinaus beschäftigt hat und musste feststellen: Er hat sich selbst übertroffen. Während mich bei „Mörderinnen“ neben dem tollen Schreibstil vor allem überzeugt hat, dass ein Buch über die vergleichsweise seltene Tätergruppe der Frauen geschrieben wurde, war es bei „Mörder“ wahrscheinlich die Vielzahl an Momenten, die sich in mein Gedächtnis gebrannt haben und mich mit jeder Menge „was würde ich tun“-Fragen zurückgelassen hat. Denn der Autor verlangt dem Leser – vielleicht für den Leser teilweise unbewusst – ab, dass er selbst seine Bewertungen und Meinungen fällt. Im Vordergrund des Buches steht größtenteils die Tat und wie es zu dieser Tat kam, nebensächlich ist meist das Urteil, denn der Leser wird permanent vor die Frage gestellt: Ist das Urteil so in dieser Weise verständlich? Veikko Bartel leitet dabei gern mit dem Urteilsspruch ein, um den Leser im Anschluss daran regelrecht an den Kopf zu werfen, dass er sich nicht vorschnell ein eigenes Urteil bilden soll. Zu keiner Zeit bleibt dabei außer Acht, dass es sich um teils juristische Inhalte handelt, die vielen Lesern nicht alltäglich sind, weshalb viele Sachen erklärt werden. In „Mörderinnen“ hatte ich teilweise das Gefühl, dass hier einige Erklärungen auf der Strecke blieben, während hier mit Fußnoten und auch im jeweiligen Epilog zahlreiche Fragen beantwortet werden. Man merkt dem Autor dabei auch an, welche „Standardfragen“ er immer wieder im Rahmen seiner beruflichen Laufbahn beantworten musste und sicher wird sich der ein oder andere Leser ertappt fühlen, wenn Herr Bartel ansetzt zu „jetzt könnte man meinen, dass..“. Die lehrreichen Erklärungen wirken dabei aber nie belehrend. Mörder ist ein interessanter Einblick in eine sehr vorurteilsbehaftete Welt der Strafverteidigung, welche der Autor durch seinen Berufs- und Büroalltag erklären möchte. Es gibt einige Anekdoten, die das Buch ein wenig auflockern (etwa, als der Autor an der Supermarktkasse stehend in einem Telefonat eine Leiche beschrieb und die gesamten Anwesenden mithören konnten oder wie er seinem Bodyguard in Indien entkam, um an Straßenständen zu essen). Aber nie verliert Veikko Bartel sein eigentliches Ziel – den Fall – aus den Augen, wenngleich es hin und wieder aber auch längere Umwege gibt, etwa im Kapitel „Der Scharfschütze der Fremdenlegion“, wo der Autor nach Indien fliegt und sehr eindrucksvoll von seinen Erlebnissen dort berichtet. Er stellt fast immer den Mandanten in den Vordergrund und verfällt auch bei guten Verteidigungszügen nicht in eine ausufernde Selbstbeweihräucherung, wie man es von anderen Autoren des Genres kennt. Die Auswahl der Fälle ist erneut gut gelungen, insbesondere, dass sie nicht alle in die gleiche Kerbe schlagen und nicht alle den gleichen Verlauf nehmen. Etwas unterschiedlich in der Erzählung ist das Kapitel „Der Scharfschütze der Fremdenlegion“ (der Ausflug nach Indien thematisiert mehr das indische Rechtssystem und die damit verbundenen Erlebnisse) und das letzte Kapitel „Der Serienvergewaltiger, der Tod von Frau Meyer und das Gewissen eines Strafverteidigers“. Eines haben aber alle Fälle gemeinsam: Sie zeigen für mich, dass Recht oftmals nicht schwarz oder weiß ist. Denn der Leser wird mitgenommen auf eine Reise, die zwischen Entsetzen, Emotionen und einem gewissen Grad an Verständnis für einige zu der vielleicht erschreckenden Erkenntnis führen wird, dass auch hinter einem Fall, wo ein Mensch das Leben eines anderen nimmt, nicht immer menschliche Abgründe liegen müssen, sondern manchmal auch menschliche Schicksale stecken können. Fast jeder Fall in diesem Buch hallte dabei in mir nach und ich ertappte mich immer wieder, wie ich auch später über einzelne Punkte nachdachte. Herr Bartel hat mir mit einer Frage jedoch tatsächlich tagelange Alpträume beschert: Haben Sie sich jemals gefragt, wie Sie reagieren würden, wenn jemand Sie anruft und fragt, was er nach der Tötung einer Person tun soll? Das letzte Kapitel des Buches spricht vor allem über das Bild eines Strafverteidigers in der Realität, seine Rolle im Strafverfahren und seine Bedeutung für die rechtsstaatliche Ordnung. Es war ein Kapitel, was für mich fast wie ein therapeutischer Epilog wirkte, denn es geht hierbei um Fragen, denen sich ein Strafverteidiger regelmäßig stellen muss: Hat ein Strafverteidiger ein Gewissen? Der Autor erläutert für mich sehr schön die Diskrepanz zwischen Vorstellung und Wirklichkeit, den Spagat zwischen seiner Rolle im System und seinem eigenen Gewissen anhand eines Falles. Veikko Bartel beherrscht die Kunst, ebendiese Rolle des Strafverteidigers eindrucksvoll zu erläutern, ohne den Strafverteidiger wie ein Monster wirken zu lassen, welches rücksichtslos auf der Seite des vermeintlich Bösen steht. Und er entlässt den Leser mit einer verborgenen Frage, die fast so wirkt, als sei er an ihr zerbrochen. Und so beende ich dieses Werk, bei dem man die Liebe des Schreibers zu einem Beruf, der ihn sicher öfter zur Verzweiflung und zu Selbstzweifeln gebracht hat, auf jeder Seite merkt, mit der festen Überzeugung, dass ich dem letzten Satz in diesem Buch nicht zustimme und verbleibe mit der Hoffnung, dass dieses Buch nicht das letzte Buch von Veikko Bartel sein wird. Denn er beherrscht die Kunst, den Leser in eine unbekannte Welt zu entführen und ohne sensationslüsterne Schilderungen zu fesseln und zu begeistern, auch wenn ich nicht immer komplett seine Ansichten teile. Von mir aus könnte der Autor auch über Rotlichtverstöße, Hausfriedensbruch oder Ladendiebstahl schreiben – ich bin mir sicher, ich wäre genauso überzeugt. Denn Veikko Bartel zählt für mich – spätestens nach diesem Werk, wenn nicht bereits seit Mörderinnen, welches ich ebenfalls jedem ans Herz legen kann – zu einem der besten True Crime Autoren der Gegenwart.