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«Wir sind Indianer und Native Americans, American Indians und Native American Indians, North American Indians, Natives, NDNs und Ind’ins, Status Indians und Non-Status Indians, First Nations Indianer oder so indianische Indianer, dass wir entweder jeden Tag daran denken oder niemals. ... Wir sind registrierte, nicht registrierte und nicht berechtigte Stammesmitglieder, sind Vollblut, Halbblut, Viertel, Achtel, Sechzehntel, Zweiunddreißigstel. Mathematisch nicht darstellbar. Ein unerheblicher Rest.» Sie sind Native American Indians, leben in Reservaten oder irgendwo im Land. Unerträglicher Rassismus schlägt ihnen entgegen. Ein verbleibender Rest Identität. – Was ist Identität? Ein Powwow etwa? Tommy Orange berichtet aus 12 verschiedenen Perspektiven über das Leben von Native American Indians, wie sie sich auf ein Powwow vorbereiten, sich auf den Weg machen. Jeder hat seine eigenen Gründe daran teilzunehmen. Dene sammelt mit seiner Kamera Geschichten indianischen Lebens von heute, will einen Film auf dem Powwow drehen. Jacquie Red Feather hat sich endlich vom Alkohol befreit, kehrt nun zur Familie zurück. Sie hat mit ihrer Mutter und ihren Schwestern Opal Viola und Victoria Bear Shield in den Siebzigern ein paar Jahre auf der Insel Alcatraz in einem Protestcamp gelebt, um mit anderen Native Americans für Gerechtigkeit ihrer Stämme zu kämpfen. Was erwartet sie von ihnen nach all den Jahren? Orvil und Lony, deren Mutter verstorben ist, wuchsen bei ihrer Großtante auf. Die hatte ihnen verheimlicht, dass sie Native American Indians von der Abstammung her sind. Orvil ist auf der Spur der Ahnen, will auf dem Powwow in Oakland seine Identität spüren, den Tanz seiner Vorfahren tanzen, übt mit Youtube-Videos. Der 21-jährige Tony dealt, seit er 13 ist, lebt bei seiner Großmutter, die gern Bücher von Louise Erdrich liest. Menschen mit wenig Chance in einer weißen Welt: Ausweglosigkeit, Armut, Kriminalität, Alkoholismus, Drogen, Vergewaltigung, junge Frauen, die sich selbst das Leben nehmen. Tommy Orange beschreibt Lebensläufe der heutigen Native American Indians gnadenlos – realitätsnah. Beim Wort Indianer kommen Bilder hoch: Tipis, Tomahawk, Adlerfedern, Kriegsbemalung, Wildwest, Karl May … Hollywoodkitsch. Und ein wenig davon ist sicher auch ein Powwow. Aber es ist das Einzige, das für viele die letzte Hoffnung auf Identität ist, eine Veranstaltung, die zum mystischen Ort der Vergangenheit wird. Das Stadion als Heimat, weil man ihnen die Heimat genommen hat. Denn Heimat ist nicht gleich USA. «Du stammst von einem Volk ab, das nahm und nahm und nahm. Und von einem Volk, das genommen wurde. Du warst beides und keins.» Junge Menschen ohne Identität, weil ihre Eltern sie ihre ablegten, meinten, damit Amerikaner sein zu können. Alltagsrassismus, eben Indianer zu sein oder vielleicht als Latino beschimpft zu werden – die Suche nach der eigenen Identität. Viel Alkohol ist im Spiel, Drogen und Kleinkriminalität, bildungsferne Menschen. Die Großmütter sind verlässlich, Ratgeber, Mahner, und der ein oder andere der Protagonist lebt ein normales Leben. 12 Menschen unter Hunderten, die zusammenkommen werden – die wenigsten von ihnen kennen sich, aber ihr Herz sagt, das ist ihre Familie. Nicht alle von diesen 12 haben gute Absichten – Pistolen aus dem 3D-Drucker ausgedruckt, die echt aussehen, bei einer Probe sogar funktionieren. Ein Drama – der Leser weiß es von Anfang an. Ein Raub in der Vorbereitung. Ab der Mitte zieht der Schreibstil an, immer mehr Tempo, immer kürzere Kapitel. 12 Menschen, deren Weg sich am Ende kreuzen wird. Tommy Orange schafft es, weder anklagend noch wehmütig zu schreiben, noch zu übertreiben. Eine Beobachtung zum heutigen Leben der Native American Indians – glasklar brutal. Eine spannende Geschichte, ein wichtiger Roman. Niemanden wird die Lektüre unberührt lassen. «Wir haben die Powwows geschaffen, weil wir einen Ort zum Zusammensein brauchen. Etwas Stammesübergreifendes, etwas Altes, etwas zum Geldverdienen, etwas, worauf wir hinarbeiten können, für unseren Schmuck, unsere Lieder, unsere Tänze, unsere Trommel. Wir führen die Powwows fort, weil es nicht viele Orte gibt, an denen wir uns alle versammeln können, an denen wir einander sehen und hören.» (Tommy Orange) Tommy Orange, geboren 1982 in Oakland, die Mutter weiß, der Vater Cheyenne, ist Mitglied der Cheyenne und Arapaho Tribes. Er lebt mit seiner Frau und seinem Sohn in Angels Camp, Kalifornien. Tommy Orange selbst war von dem Erfolg seines Romans erstaunt, denn die Idee dazu stammt aus einer Bewerbung für ein Video-Projekt. Das Buch wurde für den Pulitzerpreis nominiert.