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gwyn

Posted on 23.1.2020

Der Anfang: »Ihr Name war Leila. Tequila Leila, so kannten sie ihre Freunde und Kunden. Tequila Leila, so hieß sie daheim und bei der Arbeit in dem rosenholzfarbenen Haus in der Kopfsteinpflastergasse uten am Kai zwischen Kirche und Synagoge, zwischen Lampenläden und Kebabbuden – in der Straße mit Istanbuls älteste amtlich zugelassenen Bordellen.« Leila, eine Prostituierte, liegt tot auf einer Müllhalde. Ihre Seele schwebt noch über dem Körper und sie blickt auf ihr Leben zurück – unfassbar, sie ist tot, ermordet, wie konnte es dazu kommen? Sie ist in den Fünfzigern im ostanatolischen Van geboren, aufgezogen von einem strengen Vater, von Mutter und Tante, von der sie später erfährt, dass die Zweitfrau des Vaters eigentlich ihre Muter ist. Der Vater brauchte einen Stammhalter, den ihm die Erstfrau nicht geben konnte – darum heiratete er eine zweite Frau. Die wurde zwar schwanger, aber leider wurde es »nur« ein Mädchen, Leila. Viel später folgte ein Sohn, der aber mit Trisomie 21 »verflucht« war. Der gläubige Muslim fragt sich, welcher Süde er schuldig sei, so bestraft zu sein, flüchtet sich immer weiter in seine Religion, traktiert die gesamte Familie. Leila wird von ihrem Onkel missbraucht, versteht überhaupt nicht, was er mit ihr macht – aber ihr ist es unangenehm und sie weiß, es ist etwas Böses, etwas Unerlaubtes. Kurz vor der Zwangsverheiratung flieht Leila aus dem Dorf, fährt nach Istanbul, wo sie einen Job zu bekommen glaubt. Sie gerät aber sofort an die falschen Personen und landet als Prostituierte im Rotlichtmilieu. Sie richtet sich in ihrem Leben ein und findet Freunde: die Somalierin Jamila, die Nachtklubsängerin Hollywood Humeyra, der Trans-Mann Nostalgie Nalan, der kleinwüchsige Zayneb 122 und hält Kontakt mit Sabotage Sinan, ihrer ersten Liebe. »Sie hatte nie einen Pfirsich berührt, damit das Baby nicht mit Flaum bedeckt zur Welt kam, hatte ganz ohne Gewürze und Kräuter gekocht, damit es ohne Sommersprossen und Leberflecken geboren wurde, hatte nie an Rosen gerochen, um Feuermale zu verhindern.« Leila wächst auf in einer Welt, die von Aberglaube und Religiosität behaftet ist. Frauen haben nichts zu sagen, keine Rechte – sie haben zu funktionieren. Nicht alles mag Leila akzeptieren und sie findet einen Freund, ihre erste Liebe bei Sabotage Sinan, die auch erwidert wird. Aber natürlich darf das alles nicht sein. Trotz allem, was Leila widerfährt, ist sie kein Opfer. Stolz richtet sie sich in ihr Schicksal ein. Und sie lernt den Revolutionär D/Ali kennen, der ihr Leben verändert. Jedes Leben hat Glücksmomente, stellt Leila fest, und man muss sie festhalten und leben, denn das Glück ist ein langer Ton, der irgendwann verhallt. Das Glück in ihrer Familie war nie dauerhaft, stets von Schatten verhangen. Freundschaft ist Glück. Sie hat fünf Freunde – ein großer Schatz, der das Leben lebenswert macht. Sie hat spät die Liebe gefunden, die nur durch den Tod beendet wird. »In Wahrheit gab es kein Istanbul, sondern viele Istanbuls, ... das hochherrschaftliche und das proletarische Istanbul, das weltoffene und das provinzielle, das kosmopolitische und das spießbürgerliche, das dekadente und das fromme, das machohafte und das feministische Istanbul.« Der Geruch von Zitrone, Kardamomkaffee, von scharf gewürztem Ziegeneintopf, Holzöfen und auf der Zunge der Geschmack von Wassermelone, Elif Shafaks Roman ist erfüllt vom orientalischen Duft und teilweise zeigt sich die poetische orientalische Art des Erzählens. Menschen im Großstadtgetümmel Istanbuls, am Rande der Gesellschaft, solidarisch in Freundschaft verbunden. Ein wundervoller Roman, aber auch ein politischer, feministischer, ein geschichtsträchtiger – einer, den man gelesen haben sollte. »Die Trauer ist wie eine Schwalbe. Eines Tages wacht man auf und denkt, sie wäre fort, aber sie ist nur anderswohin geflogen, um sich das Gefieder zu wärmen. Früher oder später kehrt sie zurück und lässt sich wieder im Herzen nieder.« Elif Shafak wurde in Straßburg geboren, lebt in London und gehört zu den bedeutendsten Schriftstellerinnen der Gegenwart. Ihre Werke wurden in über fünfzig Sprachen übersetzt. Ihre siebzehn Bücher, darunter »Die vierzig Geheimnisse der Liebe«, »Ehre«,»Der Geruch des Paradieses«, haben diverse Preise erhalten. Mit ihren Artikeln und Auftritten wurde sie zum viel beachteten Sprachrohr für Gleichberechtigung und freiheitliche Werte zunächst in der Türkei, später in ganz Europa. 2006 wurde sie in der Türkei angeklagt, mit ihrem Roman »Der Bastard von Istanbul« das Türkentum verunglimpft zu haben. Die Klage wurde zu der Zeit abgewiesen und das Buch dadurch umso mehr gelesen. Heute ist sie erneut im Visier der türkischen Behörden, diesmal wegen angeblicher »Unzüchtigkeit« in ihren Schriften (das bereits von Veröffentlichung von »Unerhörte Stimmen«). Inzwischen reist Elif Shafak nicht mehr in die Türkei, weil dort heute Journalisten, Schriftsteller, Intellektuelle aus politischen Gründen inhaftiert werden – sie selbst inhaftiert werden könnte.

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