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gwyn

Posted on 23.1.2020

Wie fange ich es an? Wäre ich dreizehn, hätte ich das Buch vielleicht gut gefunden. Aber es ist nun mal als Roman ausgewiesen, nicht als Jugendbuch. Ein Marketingfehler. Der Roman ist von Inhalt und von der Schreibweise eindeutig ein Jugendbuch für das Klientel 13-16 Jahre, nicht einmal Allage. Hier liegt für mich eindeutig der Haken – denn wenn ich nicht an Jugendbüchern interessiert bin, werde ich mordsmäßig enttäuscht sein. »Das müssen Sie selbst herausfinden, Signora Spada. Suchen Sie sich etwas, womit sie den anderen Ihren Wert zeigen können und Ihr Gesicht. Stürzen Sie sich hinein, und springen Sie hoch. Bringen Sie die Meute zum Schweigen, indem Sie etwas aus sich machen, was die anderen nie sein werden.« Ich lese auch gern mal ein Jugendbuch und habe deshalb den Roman bis zum Ende gelesen. Gioia Spada ist siebzehn, ihr Name bedeutet Freude. Allerdings ist ihr Leben nicht allzu erfreulich. Sie lebt mit ihrer alkoholkranken Mutter und der bettlägerigen Oma zusammen. Hin und wieder taucht der Vater auf – dann kracht es gewaltig, die Eltern streiten sich lauthals und es fliegen Gegenstände durch die Wohnung. In der Schule wird Goia Trauerkloß genannt. Hier hat sie keine Freunde. Wie auch, denn in abgerissenen Klamotten, ohne Statussymbole, da findest du niemanden, der sich für dich interessiert, insbesondere wenn du nicht an den anderen interessiert bist. Goia machts sich rein gar nichts aus den Dingen, für die sich die Klassenkameradinnen interessieren: Mode, Schminke, Popmusik, Partys – ein seltsames Mädchen, wie die anderen meinen. Sie interessiert sich für Rilke und Pink Floyd und sie sammelt unübersetzbare Wörter aus allen Sprachen der Welt, fotografiert Menschen von hinten. Sie ist eben völlig anders als der Rest – und somit ein gutes Mobbingopfer. Während ihre Klassenkameraden sich auf dem Schulhof mit dem neuesten Tratsch beschäftigen, unterhält sich Goia mit dem Philosophielehrer Dr. Bove über philosophische Themen. An diesen Stellen brilliert das Buch ein wenig – zumindest, soweit man es als Jugendbuch definiert. Nehme ich es als Roman für Erwachsene – wie ausgeschrieben – dann erinnert mich das Ganze an Paulo Coelhos klebrige Poesiealbum-Weisheiten. Dr. Bove bringt zum Beispiel Cremeschnitten mit in den Unterricht, fordert die Schüler auf, sie zu essen. Dann stoppt er die Schüler, fragt, was sie auf ihren Tellern sehen: »Ihr habt mit dem Teil angefangen, der euch weniger gut schien. … wolltet euch den besseren Teil bis zum Schluss aufheben. Habt ihr das gemerkt?« »Das mache ich immer so«, sagt einer. »Als ihr anfingt zu essen, wusstet ihr nicht, dass ich euch sagen würde, dass ihr aufhören sollt. Keiner von euch konnte das wissen.« »Ja, das war ganz schön mies. Hätte ich es gewusst, dann hätte ich erst die Cremefüllung gegessen«, sagt Casali.« Eines abends eskaliert mal wieder der Streit zwischen den Eltern. Goia haut ab, landet in einer Kneipe. Sie trifft auf einen Jungen in ihrem Alter, der Dart spielt, ist fasziniert von Lo, wie er sich nennt. Von nun an kommt sie regelmäßig an diesen Ort, um Lo zu treffen. Eine zarte Liebe entspinnt sich, der erste Sex. Doch dann ist Lo verschwunden. Der erste Mensch, dem Goia vertraute, der sie nahm, wie sie ist – der erste Mensch, der sie liebt. Oder doch nicht? Wer ist Lo? Wie heißt er wirklich und wo wohnt er? Niemand scheint den Jungen mit dem Kapuzenpullover zu kennen. Goia macht sich auf die Suche, ihn zu finden. Kein neuer Stoff, keine neue Geschichte, lediglich neu erzählt. Die Figur Lo ist oberflächlich gezeichnet, denn wenn man psychologisch in die Tiefe gehen würde, würde die Story kippen und der Plot so nicht mehr passen. Bei ihm passt leider nicht viel zusammen. Goia ist schon besser konstruiert, aber auch hier fehlt mir die Tiefe. Ich frage mich zum Beispiel, weshalb jemand damit unzufrieden ist, nicht dazuzugehören, der sich mit wirklich allen zur Verfügung stehenden Mitteln aus der Gruppe herauskatapultiert, genau das Gegenteil macht, immer bewusst gegen den Strom schwimmt. Gegen den Strom zu schwimmen kann Berufung sein – aber dann will man auch nicht dazugehören. Eine nette, oberflächliche Story, angereichert mit ein paar einfachen Lebensweisheiten. Die erste Liebe, zwei Außenseiter, die sich finden und respektieren – na logisch. Die Geschehnisse um Lo’s Leben sind mir doch zu arg konstruiert. Aber ich will nicht ins Detail gehen, zu viel verraten. Das Ganze liest sich spannend und wie gesagt, für 13 -16 Jahre ist es ein Stoff, der anspricht. Schon allein sprachlich gesehen – ganz abseits des Inhalts – fühlte ich mich eher in die achte Klasse versetzt, als zu 17-jährigen Gymnasiasten. Enrico Galiano hat sich selbst angeblich als Figur in den Roman geschrieben als Dr. Bove – den Schülerversteher. Würde er sich selbst gern so sehen? Vom Verlag wird propagiert, er sei einer der beliebtesten Lehrer in Italien. Hier würde ich doch gern mal den statistischen Hintergrund erläutert haben: Wer hat die Studie in Auftrag gegeben, wer hat untersucht nach welchen Kriterien und wer wurde befragt? Beliebtester Lehrer in einem Land (von Tirol-bis Sizilien)? Ich finde es schwierig, mit solchen Parolen Werbung zu machen und anderen beweihräuchernden Aussagen zur Genialität des Autors. Zumindest ist mir schriftstellerisch nichts Geniales aufgefallen. Das Autorenprofil fand ich doch recht peinlich – wedeln und husten bei aufsteigenden Weihrauchwolken. Enrico Galiano ist Lehrer, und er rief die Bewegung #poettepiste (Gedichteumarmen) ins Leben, Flashmobs von Schülern, die überall in der Stadt Gedichte plakatierten. Mit seinem ersten Roman »Und doch fallen wir glücklich«, dessen Titel sich auf einen Vers von Rilke bezieht, führte monatelang die italienischen Bestsellerlisten an.

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