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seeker7

Posted on 19.1.2020

Was für ein Buch! Was für ein Schriftsteller! Vor ca. zwei Jahren begeisterte mich ein Buch über das Schicksal eines blinden Mädchens unter dem Nazi-Regime. Ihr Vater hatte sie auf die anstehende Trennung von ihm dadurch vorbereitet, dass er ihr ein detailgetreues Modell des Ortes gebaut hat, in dem sie den Krieg überstehen sollte. Sie konnte sich - nach entsprechendem Training - auf dieser Basis auch alleine orientieren und so letztlich überleben. Eine irre Idee, ein gewaltiges und extrem bewegendes Buch ("Alles Licht, das wir nicht sehen"). Der Autor: Anthony Doerr. Damals schrieb ich noch keine Rezensionen. Ich weiß nicht, warum es so lange gedauert hat, mich einem anderen Werk des Autors zuzuwenden. Jedenfalls ist mir jetzt klar geworden: Ich werde alles von diesem Menschen lesen! Der Mensch ist für mich ein Genie! Jetzt endlich zum Buch: Der Roman über den Hydrologen (also Wasser- und Wetterwissenschaftler) David Winkler erstreckt sich über mehrere Jahrzehnte seines Erwachsenen-Lebens (mit kleinen Ausflügen in die Kindheit). Er - und so auch das Buch - kommt von dem Thema “Wasser“ nicht los. Wasser ist das verbindende Element des Buches und seiner Geschichten über etwas mehr als eine handvoll Personen, deren Leben kunstvoll miteinander verwoben werden. Wasser in all seinen Aggregatzuständen (bevorzugt auch als Schnee), und Wasser in all seinen Funktionen: von der Quelle des Lebens in jeder Körperzelle bis zur vernichtenden Flut. Winkler ist ein Sonderling. Er geht ungewöhnliche Wege, trifft ausgefallene Entscheidungen, die er dann mit einer befremdlichen Konsequenz verfolgt. Er lässt sich auf eine manchmal autistisch wirkende Art kompromisslos ein - manchmal bis zur Grenze der Selbstvernichtung. Für Winkler verschwimmen (Achtung Wortspiel, es geht immer um Wasser) immer wieder mal die Grenzen zwischen Realität und Traum. Bestimmte Bilder verfolgen ihn viele Jahre, ohne dass er sicher ist, welche Welt die Quelle darstellt. Winkler macht schon früh die Erfahrung, dass seine Träume plötzlich zur schrecklichen Realität werden können. Das könnte enorme Gefahren beinhalten... Warum sollte uns das sehr besonders verlaufende Leben dieses David Winkler interessieren? Nun, weil es in diesem Buch nicht nur um Wasser, sondern auch um Menschen geht. Insbesondere um familiäre Beziehungen, um deren Entstehen, deren Verlust und die nie endenden Sehnsucht, wieder in sie zurückzufließen. Winklers Leben verläuft in Extremen, überspannt fast den gesamten Globus. Er scheint zwischendurch sein Ziel aus dem Auge zu verlieren. Aber er macht nur Pause. 25 Jahre.... Sprachlich ist dieser Roman ein Leckerbissen, ein Juwel. Man wird geradezu gezwungen, sich dem Tempo der Geschichte und ihrer Figuren anzupassen. Man kann nicht hinweghüpfen über die Situationen und Bilder. Man muss eintauchen. Man wird festgehalten, wie von einem Sog. Es geht in die Tiefe, in die Intensität. Es schneit nicht einfach, Schneekristalle werden zu individuellen Kunstwerken deren Struktur es zu entschlüsseln und festzuhalten gilt. Es gibt einen Handlungsfaden - aber wer dieses Buch nur liest, um zu erfahren wie es ausgeht, hat es gründlich verpasst. Wenn es diesen Titel nicht schon seit Jahrzehnten gäbe, könnte das Buch auch “Die Entdeckung der Langsamkeit“ heißen. Sich auf dieses Buch einzulassen, verspricht ein echtes Erlebnis. Vielleicht mit ein paar Stellen, die Ungeduld auslösen. Weil die Detailverliebtheit überschwappt - bei Winkler oder bei Doerr. Aber ich verspreche ein großes Lesevergnügen und einen langfristigen Gewinn. Man will dieses Buch nicht nicht gelesen haben.

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