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seeker7

Posted on 19.1.2020

Wie soll man angemessen eine literarische Lese-Reise beschreiben, die einen durch ca. 1300 Seiten getragen hat? Das kann nur eine vorsichtige Annäherung sein. Wir haben es mit mit einer mächtigen Familien-Saga zu tun. Mächtig hinsichtlich der beteiligten Generationen und Personen, mächtig auch bezogen auf die Thematik: Es geht um nicht mehr und nicht weniger als um ein Jahrhundert-Projekt - nämlich die Geschichte der kleinen Nation Georgien und seiner wechselhaften und leidvollen Beziehungen zum großen nördlichen Nachbarn, der UDSSR bzw. Russland. Wobei - hier wird es schon kompliziert - diese Formulierung nicht ganz korrekt ist, denn Georgien war ja lange Zeit ein integraler Bestandteil der UDSSR. Die erste und entscheidende Frage bzgl. dieses Buches (erschienen 2014) muss also heißen: Warum sollte man sich als Mitteleuropäer im bereits fortgeschrittenen 21. Jahrhundert in diesem Ausmaße auf historische Betrachtungen dieses vermeintlich (für uns) bedeutungsarmen Gebietes einlassen? Woher soll bitteschön die Motivation für 1300 Seiten kommen? Genau diese Skepsis habe ich auch in mir gespürt, als ich vor der Entscheidung für dieses Hörbuch stand. Ich bin sehr froh, dass ich diese Zweifel überwunden habe! Im Rest meine Ausführungen will ich darlegen, warum es sich aus meiner Sicht gelohnt hat, diese Zeit zu investieren. Dabei will ich drei Bereiche ansprechen: die Story, die Wissensvermittlung und die Sprache. Familiengeschichten haben einen enormen Vorteil: In Ihnen kann sich das pralle Leben in allen erdenklichen Facetten spiegeln. Weil das Leben mit all seinen Irrungen und Wirrungen sich ganz automatisch in und um Familien abspielt; in diesem Buch in besonders intensiver Weise. Diese Familie wird in sechs Generationen angeboten. Damit daraus eine irgendwie konsistente Geschichte wird, werden einige literarische Kunstgriffe angewandt: - Es gibt ein verbindendes Familien-Thema: das besondere Schokoladen-Rezept des Gründers der "Dynastie". - Es gibt einige Hauptpersonen, die als zentrale Verbindungsglieder zwischen den Generationen wirken und dem ganzen Plot - über ihre eigene Generation hinaus - eine nachvollziehbare Struktur geben. - Es gibt - nicht zuletzt - eine Rahmenhandlung, in der die Erzählerin, die ein Teil der Familie ist, davon berichtet, wie und warum sie die wechselvolle Familiensaga für das jüngste Mitglied (ihre Nichte) aufschreibt. Bzgl. des Inhalts möchte ich mich auf den Hinweis beschränken, das es in diesem komplexen Familiensystem an Themen nicht mangelt: Loyalität, Verrat, Liebe, Hass, Betrug, Rivalität, Unterdrückung, usw. Was lernt man über die Welt, in diesem Familien-Epos? Man lernt viel über Georgien. Aber das würde sicher nicht ausreichen, um aus diesem Roman auch einen historischen Leckerbissen zu machen. Man kann wohl ohne Übertreibung sagen: Dieses Buch verschafft einen ungewohnt intensiven Einblick in das sowjetische Herrschaftssystem nach der Revolution, also nach der Zarenzeit. Um es noch schärfer zu formulieren: Das gesamte Buch ist eine Abrechnung mit dem Sozialismus/Kommunismus sowjetischer Prägung, insbesondere mit dem stalinistischen Willkür- und Unterdrückungsregime. Ohne dass ihre Namen einmal ausgesprochen würden, sind Stalin und der georgische Geheimdienstchef die beiden historischen Hauptfiguren des Romans, der in weiten Teilen auch in Moskau spielt. Natürlich hat man es hier nicht mit einer "objektiven" Geschichtsschreibung zu tun; trotzdem fühlte ich mich faktenreich aufgeklärt über die beschämenden Hintergründe eines Systems, das antrat, das Los der unterdrückten Massen zu verbessern. Die Autorin führt aber nicht nur durch das Sowjet-Imperium von Lenin bis Gorbatschow, sondern spiegelt auch Aspekte der westlichen Welt, insbesondere die Kulturzene der 60iger und 70iger Jahre in London. Wie schreibt nun diese Autorin, die sich zunächst als Theaterregisseurin einen Namen machte? Ich war fasziniert von der Intensität ihrer Sprache. Die Autorin ist zweifellos eine Künstlerin hinsichtlich des Ausdrucks von Emotionen, Beziehungsdynamiken und Selbstreflexionen. Sie benutzt starke Bilder, ihre Beschreibungen haben häufig etwas Drängendes, Tiefgründiges und Aufwühlendes. Es wird heftig geliebt, gestritten und gehasst in dieser Familie und ihrer Lebenswelt. Wer als Leser dadurch erreicht wird, der taucht ein in diese Geschichte und will davon selbst nach 1300 S. nicht lassen. Wem das alles zu dolle ist, wird das Buch ziemlich schnell beiseitelegen. Insgesamt hat mir dieses Buch Empfindungen und Erfahrungen geschenkt, die ich nicht missen möchte. Vielleicht wird es für mich sogar DAS BUCH des Jahres. Ich würde mich gerne irgendwann mit jemandem austauschen, der/die dieses Buch auch gelesen/gehört hat.

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