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lisseuse

Posted on 15.1.2020

Karen Duves Vorbemerkung zu "Fräulein Nettes kurzer Sommer" ließ mich auf ein gut recherchiertes, fast biographisches Buch hoffen. Immerhin will sie "den beteiligten Personen Meinungen in den Mund [gelegt haben], die sie in Tagebüchern, Lebensberichten und Briefen selbst geäußert haben". Da es sich trotz allem um einen Roman handelt, ist ohne aufwändige Recherche leider nicht festzustellen, ob Duve dieses Versprechen wirklich einhält. „Fräulein Nettes kurzer Sommer“ beginnt in medias res mit einer Kuss-Szene, die sich meines Erachtens wie eine Vergewaltigung liest. Ob es sich dabei um den besten Einstieg in einen Roman handelt, von dem ich eigentlich erwartet hatte, dass er mir die Gedanken- und Schaffenswelt einer Dichterin näherbringt, halte ich für fraglich. Nachgeschoben wird ein kurzes Kapitel über die Kindheit von Annette von Droste-Hülshoff. Im Anschluss daran wird dann aber seitenlang über das mittelmäßige Studentenleben mittelmäßiger Männer berichtet, deren herausstechendste Eigenschaft ist, dass sie sich vor Deutschtümelei kaum lassen können, und deren Namen heute kaum jemand erinnert. Überhaupt: Wie der im Buchcover abgebildete Stammbaum Annette von Droste-Hülshoffs zeigt, ist diese in ein weitverzweigtes Familiennetz voll Frauen eingebunden. Im nebenbei Erzählten wird durchaus auch deren Bedeutung für Annette deutlich, immerhin finden ihre sozialen Beziehungen primär innerhalb der Familie statt. Tatsächlich handelnd erscheint im Roman aber immer nur die Riege der Studienfreunde eines etwa gleichaltrigen Onkels von Annette. Durch diese Fokussierung schafft Duve es, eine triste, bedrückende, eingeengte Stimmung zu erzeugen, von der ich nicht sicher bin, ob sie die Lebensrealität der dargestellten Frauen wirklich akkurat wiederspiegelt: Denn zum einen war die Selbstwahrnehmung der Frauen von deren eigenem Erfahrungshorizont geprägt, der es ihnen gar nicht vorstellbar erscheinen ließ, dass ihr Leben anders und freier und selbstbestimmter sein könnte, so dass die vorhandenen Zwänge ganz anderes wahrgenommen wurden. Und zum andere hat jahrzehntelange feministische (Literatur-)Wissenschaft immer und immer wieder eindrücklich bewiesen, dass Frauen sehr geschickt darin waren (und sind!) sich Freiräume zum Denken, Handeln und Schreiben zu suchen. Dies wird meines Erachtens in Duves Roman kaum deutlich. Stattdessen frage ich mich nach 566 Seiten, wie es sein konnte, dass Annette von Droste-Hülshoff überhaupt jemals irgendein Gedicht zu Papier gebracht hat: Im Buch wird jedenfalls nur immer wieder geschildert, wie sehr ihre Familie ihr Schreiben bespöttelt, kritisiert und verkennt. Generell scheint mir der Fokus der Erzählung immer gerade so neben Annette von Droste-Hülshoff zu liegen. Zu oft wird auch in Kapiteln in denen sie als handelnde Figur auftritt nicht aus ihrer Perspektive sondern aus der ihrer Familienmitglieder und Bekannten erzählt. Das homodiegetische Erzählen, das häufig in stream-of-counsciousness übergleitet bildet so zumeist auch nur die Gedanken anderer ab. Annette von Droste-Hülshoff bleibt in der Folge als Figur denkbar blass und undefiniert. Der einzige Aspekt ihres Innenlebens, der mir klar wurde, ist ihr frömmelnder Katholizismus, in dem jede noch so kleine Verfehlung zu ewiger Verdammnis führt. Immerhin dieser Aspekt steht meines Erachtens dann auch deutlich in Verbindung zu ihrem literarischen Schaffen. Mein größtes Problem mit Duves Roman ist aber wohl, dass er es nicht schafft auch nur für eine einzige Figur meine Sympathie zu wecken. Wie bereits geschrieben, bleibt mir die Titelfigur zu blass. Wie wenig Sympathie der Roman für seine Titelheldin hat, wird schon am ersten Satz des Klappentextes deutlich: „Fräulein Nette ist eine Nervensäge!“ Auch die Familie wird überwiegend in ihrem Spott, ihrer Abfälligkeit und später beim Intrigen schmieden gezeigt. Und Straube, der als zweite Hauptfigur und Annette von Droste-Hülshoffs Gegenpart gelten kann, wird durch seine Kontextualisierung als Weichling und Versager geschildert, obwohl der Fokus genau so gut auf seinem Verständnis und seiner Bewunderung von Annette von Droste-Hülshoffs künstlerischem Talent hätte liegen können. Auch insgesamt wäre es mit nur einem geringfügig anderen Blickwinkel sehr einfach gewesen, sämtliche Figuren als liebenswert statt verachtungswürdig darzustellen. Liebend gerne hätte ich mit den Protagonisten mitgefühlt, so aber saß ich die meiste Zeit nur kopfschüttelnd vor dem Roman. Dies liegt auch daran, dass ich nicht glauben kann, dass die zeitgenössischen Quellen eine derart negative Darstellung der Figuren hergeben, so dass mir der Roman weniger „gnadenlos realistisch und mit trockenem Humor“ als spöttisch und misanthrop geschrieben vorkommt.

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