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SternchenBlau

Posted on 18.12.2019

Von Chuzpe und weniger von Strukturen Von Nellie Bly hatte ich irgendwann kurz im Studium gehört, als Vorreiterin im investigativen Journalismus.Und dann habe ich kürzlich in der wundervollen „Bitch Doktrin“ von Laurie Penny von ihr gelesen. Daher wollte ich diese Biografie unbedingt lesen. Autor Nicola Attadio gelingt es wirklich mir das faszinierende Leben dieser Frau sehr lebhaft zu schildern. Attadio zeigt die verschiedenen Stadien von „Blys“ Leben. Bly ist übrigens ein Pseudonym, sie wurde 1864 als Elizabeth Jane Cochran geboren. Alle Stationen ihres Lebens werden in die gesellschaftspolitischen Vorgänge der Zeit eingebunden. Der Autor leitet ziemlich geschickt durch die verschiedenen Aspekte der (amerikanischen) Geschichte, die für Blys Leben eine Rolle spielten. (Nur seine Namensflut in unterschiedlichen Varianten sorgte bei mir manchmal für Verwirrung.) Bly ging in ihren Rollen auf und so kämpfte sie nicht nur in ihren Texten für die unterdrückten Frauen und die Arbeiterschicht. Bei ihren Recherchen hat sie Härten in Kauf genommen, die ich heute noch nicht durchstehen möchte, wie sich in einer „Irrenanstalt“ für Frauen, wie das damals leider noch hieß, auf der New Yorker Blackwell’s Island einliefern zu lassen oder alleine um die Welt zu reisen. Hut ab vor Mary Bly und ihrer Chuzpe! Und diesen Respekt vermittelt der Attadio auch sehr toll. Aber gerade bei den Brüchen in ihrer Biografie hätte mir eine noch tiefere Analyse gefallen. Attadio schildert die zwar auch und auch gut. Aber irgendwie fehlte mir dann doch etwas. In Attadios Biografie geht Bly letztendlich fast immer wieder als diejenige hervor, die sich wieder aufrappelt und (fast immer) wieder obsiegt. Ja, das soll Mut machen, und ist auch wichtig kämpferische Frauen zu zeigen, weil Frauen in der Geschichte (wie auch Personen anderer marginalisierter Gruppen) noch zu wenig dargestellt wurden. Aber vielleicht wünsche ich mir weniger das Narrativ der „starken Frau“ und bedient Attadio unabsichtlich mit der Struktur des Buches. Da verstehe ich dann nicht, warum Bly, als sie die Firma ihres verstorbenen Mannes leitet, ihren Geschäftsführer und Geliebten so milde behandelt, nachdem er sie im große Geldsummen betrogen hat. Auch hier bleibt mit die Erklärung im Buch zu oberflächlich. Eine andere Leerstelle ist das Schicksal der Frauen, die Bly auf Blackwell’s Island getroffen hat. Natürlich gibt das die Faktenlage nicht her, aber Attadio nimmt sich halt auch an anderer Stelle die Freiheit, ein wenig zu fabulieren. Alle Kapitel werden nämlich mit einer Introspektive eingeleitet, in der ein imaginäres Du die geheimsten Gedanken von Nellie Bly ausspricht. Ich mag solche Forme in Sachbüchern durchaus, hier gefiel mir der Stil allerdings nicht so gut, der irgendwie zu manieriert auf mich wirkte. Und die Passagen machten für mich Bly etwas kleiner, weil hier so ihre kindliche, emotionale Seite betont wurde, aber nicht in Form eines selbstreflektierten Ichs. Stattdessen wurde es hier zur Fremdzuschreibung, und die Deutungshoheit hätte ihr besser selber zugestanden, selbst, wenn es ein literarisches Ich gewesen wäre. Vielleicht ist mir in der Konsequenz nicht genügend mitgedacht, was Feminismus bedeutet. Oder wie Laurie Penny es sagt: „Eine Frau durfte die Ausnahme zur Regel sein, solange die Regel unangetastet blieb. Nellie Bly durfte nicht zu der epochalen Autor aufsteigen, die sie gut hätte sein können.“ Attadio erklärt das mit individuellen Entscheidungen, aber die Strukturen behandelt her halt nicht. Wie es nicht darum geht, warum sie ihren Geliebten, der Geld unterschlagen hat, sogar pflegte, fragt er nicht genauer nach, warum ihr Bruder sie um ihre Fabrik betrügen wollte. Letztendlich stecken auch dort immer Strukturen dahinter, egal, wie tapfer und faszinierend die einzelne Frau ist. Schon 1888 bekam sie in einem Interview zur ersten weiblichen Kandidatur um das US-Präsidenten-Amt diese Antwort: „‚Ich kandidiere‘, erwidert Rechtsanwältin Lockwood, ‚weil dies dazu dient, die Leute an die Vorstellung von einer Frau im weißen Haus zu gewöhnen.‘“ Eine US-Präsidentin gibt es auch 131 Jahre später noch nicht. Fazit Attadios Biografie über diese faszinierende Frau habe ich sehr gerne gelesen, auch, wenn es für mich ein paar Abstriche gab. 4 von 5 Sternen.

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