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SternchenBlau

Posted on 18.12.2019

Sogwirkung! Das Worldbuilding ist eine Qualität bei Fantasy- und Science Fiction-Geschichten. Die Welt die Stefanie de Velasco schildert, gibt es zwar in der Realität, aber dennoch geistert mir dieser Begriff des „Worldbuildings“ immer im Kopf herum. Denn de Velasco baut diese Welt der Zeugen Jehovas in ihrem Roman „Kein Teil der Welt“ derart geschickt und nahbar nach, dass sie mich komplett hineinkatapultiert hat. Dies erzeugte ab den ersten Seiten bereits diese unglaubliche Sogwirkung auf mich. Ost-Deutschland, Anfang der 1990er Jahre: Esther wurde von ihren Eltern ins Dorf Peterswalde verfrachtet. Die Gemeinde der Zeugen wollen die Eltern dort aufbauen, aber dieser Grund ist zum Großteil nur vorgeschoben. In der alten Heimat ist etwas mit Esthers bester Freundin Sulamith passiert, etwas. Wir bekommen als Leser*innen eine Ahnung davon, aber der Roman ist nicht chronologisch erzählt, und wie de Velasco die Informationen aus Esthers Sicht verteilt und damit Spannung erzeugt, erschafft diese unglaubliche Sogwirkung mit. Gleichzeitig die plastische Schilderung der ersten Nachwende-Zeit mit kleinen, feinen Details: Die Wohnung der verstorbenen Großmutter ist meist eiskalt, weil die Familie mit den Kohleöfen nicht wirklich zurecht kommt. Ein Bild, dass auch auf Esther und ihre Situation zutrifft. Es gibt diese klare Trennung zwischen den Zeugen und den „Weltmenschen“. Esther ist wie unter einer Glasglocke aufgewachsen, die das Cover ziert. Besonders gut gefallen hat mir, wenn die Überreligiosität auf den post-sozialistischen Atheismus trifft. De Velasco schildert die einengenden Seiten der Zeugen Jehovas, das Verborte, wie den Druck, ja Zwang, viel zu missionieren, der sehr bürokratisches sogar ist. Feinsäuberlich müssen die Stunden notiert werden, die Esther von Tür zu Tür läuft. Wie in vielen (orthodoxen) Religionen und Sekten ist die Unterdrückung der Frauen schon strukturell angelegt, auch wenn Esthers Mutter durchaus eine gewichtige Rolle innerhalb der Gemeinde spielt. Das ist spannend zu beobachten, gerade unter einem feministischen Blickwinkel. Die Autorin war selbst bis 15 in dieser Glaubensgemeinschaft, das ist sicherlich ein Grund, warum diese Schilderungen in „Kein Teil der Welt“ so authentisch sind. Die Begründung, warum bei den Zeugen keine Geburtstage gefeiert werden beispielsweise. Aber, „Kein Teil der Welt“ ist kein Schlüsselroman: Dass de Velasco uns die Welt der Zeugen Jehovas so nahebringt, das ist einfach literarisches Können. Mehr noch: Stefanie de Velasco gelingt das Kunststück, dass sie ihre Figuren nie vorführt, trotz aller negativen Schilderungen – auch, wenn ich als Leserin den Glauben der Protagonist*innen nicht teile und die daraus resultierenden Handlungen immer wieder auch abgelehnt habe. Mir reicht bereits die drohende Klimakatastrophe, ich brauche den Glauben an den Weltuntergang, das „Harmagedon“ bei den Zeugen, nicht noch als Lebenskonzept. Aber die Autorin schafft, dass ich selbst diesen Wunsch und die Motive der Protagonistinnen irgendwie nachvollziehen kann, ohne sie teilen zu müssen. Es ist Esthers Freundin, die immer wieder Fragen stellt: „‚Wir sind wie Öfen‘, flüsterte Sulamith, ‚wir brennen. Aber wofür?“ Die Sprache, die Dialoge, Esthers Gedanken, das ist bei de Velasco poetisch wie wunderschön. Nur der Schluss, die letzten zwanzig Seiten, sind ein wenig gehetzt, oder vielleicht ging da auch die Luft aus. Ich bin mir unschlüssig. Dennoch ist „Kein Teil der Welt“ ein intensives Buch voller Empathie, das uns in eine fremde Welt einführt. Fazit Ein intensives Buch mit großer Sogwirkung, das uns in eine fremde Welt führt. 4,5 von 5 Sternen. Ein Jahreshighlight, allerdings mit Schwächen beim Schluss.

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