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gwyn

Posted on 11.12.2019

»Albe klingt vielleicht ein bisschen nach Volkstheater, aber bitte, das ist meiner. Diesmal werde ich mich nicht mehr durch die gefälschten, nächtlichen Hintertüren schleichen, ich melde Konkurs als Eremitin und Diebin an: Ich kehre in den helllichten Tag zurück, zeige mein Gesicht, um mich brechen oder beklatschen zu lassen.« Leider war Albe nicht die Zeit gegeben, mehr Literatur zu produzieren, Albertine Sarrazin starb im Alter von 29 Jahren. »Ich bin das Kind zweier Striche«, sagt die Frau, die mit 18 Monaten adoptiert in eine neue Familie gelangt. Eine Familie, die von Gewalt geprägt ist, ein brutaler Vater, ein Onkel, der sie im Alter von 10 Jahren vergewaltigt. Die Adoptiveltern geben sie nach diesem Vorfall in ein Erziehungsheim, aus dem sie wegläuft. Ihre ersten zwei Romane schrieb sie im Gefängnis: »Der Ausbruch« (»L’astragale«) und »La cavale«. Dieser Roman hier berichtet über die Zeit nach der Entlassung. Alle drei Romane sind autobiografisch. Nun mag man meinen, mit 29 Jahren, drei autobiografische Werke? Es ist die Kraft der Worte, die Gedanken von Albertine, fein formuliert oder mit Wucht geschmissen – die Beobachtungsgabe, die ihre Texte so berührend machen. »Ich schlief mit dem Heft als Kopfkissen ein, völlig ausgelaugt, aber den Kopf voller Morgenröte.« Albertine verlässt das Gefängnis 1966 und ist endlich frei – so das erste Gefühl, und in 10 Monaten wird ihr Mann, Lou entlassen. Es geht aber gleich los mit den persönlichen Einschränkungen. Wöchentlich hat sie sich bei der Polizei zu melden, muss sich einen Stempel in ihr »Heftchen« abholen und sie erhält ein Aufenthaltsverbot in den meisten Départements in Frankreich. Sie freut sich auf ihre Freunde, auf die sie sich garantiert verlassen kann. Zuerst fährt sie zu Liliane, mit der sie eingesessen hat, die sie nach der deren Entlassung mit »Onkel« verkuppelte, einem väterlichen Freund, den Liliane geheiratet hat. Onkel arbeitet gerade in Afrika, währenddessen Liliane mit ihrem asozialen Geliebten die Wohnung vermüllt und Onkels Geld verprasst. An diesem Ort darf sich Albe nicht aufhalten und sie hat auch genug gesehen, um darauf verzichten zu können. Schnell noch zum »Schleimer«, ihren Anwalt, der ihre Manuskripte hinausschmuggele, die sie im Gefängnis geschrieben hatte. »Mein netter Schleimer hat sich sein Wartezimmer mit allem eingerichtet, was jeden einschüchtern soll, der mit schickem Anzug und der Wurst im Korb zu ihm kommt; ich fühle mich bei den vielen Dalloz-Bänden mit Goldschnitt und den schweren Aschenbechern wohl, schließlich habe ich sie mit bezahlt.« Es geht weiter zu Jac, Albes bester Freundin, die den Hausstand von Albe und Lou aufbewahren soll, dafür regelmäßig Geld kassierte, auch für die Versicherung des Autos. Das allerdings ist der Wagen nun ein Totalschaden – passiert. Jac hat die Kleider von Albe für sich umgenäht, oder sie sie sind schlecht aufbewahrt und verschimmelt. Den Hausstand hat Jac zum Teil verkauft: Antiquitäten, Geschirr, Besteck usw. Das Geld vom Anwalt hat sie angeblich nie erhalten. So viel zum Thema Freunde. Albe kommt in Bedrängnis. Irgendwo muss sie unterkommen. Ihre Adoptivmutter bietet Hilfe, Alb nennt sie distanziert »Mother«. »Freundeshände haben mich fallen lassen, barmherzige Hände heben mich auf, also los: oben drüber und drunter durch, auf jeden Fall vorwärts.« Mother versorgt Albe mit Geld kümmert sich darum, dass sie ein Zimmer in einem Kloster bekommt – Abteilung gefallene Mädchen. Um 20 Uhr erfolgt der Einschlusss – weitere Fesseln, und immer wieder das Heftchen bei der Polizei abstempeln lassen … Albe fängt an zu arbeiten, als Verkäuferin, dann Eisverkäuferin, sie bewirbt sich sogar als Lokaljournalistin und bekommt den Job. Abends auf dem Zimmer schreibt sie. Das Kloster engt ein, sie sucht sich ein Zimmer zur Untermiete, aber die Vermieterin ist nicht unbedingt angenehmer. Leider nimmt sie der »warme Samt des Alkohols« wieder ein. Obendrauf wird sie bei einem kleinen Diebstahl im Supermarkt erwischt, muss wieder einsitze. Lou ist nun vor ihr frei. »Ich habe noch keine Zeit gehabt, meine Tat zu bereuen, aber wenn ich es eines Tages tue, werde ich Sie davon in Kenntnis setzen.« Albertine kommt wieder frei, wohnt mit Lou und »Onkel« zusammen, der sich von Liliane getrennt hat, ihr längst das Konto gesperrt hat. Gemeinsam kaufen sie ein einsames Haus in den Cevennen, das sie renovieren. »Vergiss nie, die Stille zu kaufen.« – Indes wartet Albe auf Post von Madrigall, der Verlag, an den sie ihr Manuskript sendete. Dann übergibt sie verzweifelt das Manuskript über einen Mittelsmann an einen weiteren Verlag: Prévaut. Langsam geht den Dreien das Geld aus. Das Brecheisen für neue Einbrüche liegt bereit. Im letzten Augenblick kommt Post. »Ich schließe die Augen vor den wie Sterne in meine Lider gravierten Worten: Wir freuen uns, Ihnen mitzuteilen, dass Ihr Manuskript angenommen wurde. Ein großes Pendel schlägt in meiner Brust die feierlichen, magischen Sekunden, jetzt kann es stehen bleiben, mein Pendel: Mein Kind ist geboren, ist auf die Welt gekommen durch die Macht des Verlegers, des Zauberers, der neunzehn Jahre lang stumm gewesen ist …« Madrigall meldet sich interessiert – will einiges im Vorfeld wissen, Listen abarbeiten (Name, Pseudonym, Studium usw.) – Albe ist nicht ernsthaft bereit dazu, alles Persönliche preiszugeben, überlegt noch, ob sie die Liste ausfüllt, als sich Prévaut sich meldet. Das Manuskript wurde angenommen. Ein Scheck verbannt das Brecheisen in den Schuppen. Die Sprache ist Prosa pur, schnörkellos, Albertine Sarrazin beobachtet genau das spießbürgerliche Gefüge um sie herum, die Falschheit – ihre sogenannte Freiheit, die voller Fesseln steckt. Voller Elan stürzt sie sich ins Leben, als sie aus dem Gefängnis entlassen wird, muss die leidliche Erfahrung machen, dass Freundschaft nicht viel wert ist. Sie ist gehetzt, eingegrenzt von Vorschriften, fühlt sich verlassen von der Welt, wünscht sich fast zurück in das sichere Leben des Gefängnisses. Die Verzweiflung ist spürbar, aber auch der Mut und die Gewissheit: Albertine ist nun Schriftstellerin – keine Diebin mehr. Die Texte sind voller Poesie, voller schöner Bilder, wenn sie vertraut, sich entspannt und brachial, wenn etwas schief geht, immer genau die Menschen beobachtend, die Fassade, und das, was dahinter steht. Eine kraftvolle Sprache, die man fast einatmet. Querwege – ein kurzer Lebenslauf, der immer wieder abzweigt. Nichts ist vorhersehbar, alles ist möglich. Auch wenn der Lebenslauf lange bekannt ist – so ist es ein Genuss, die Stimme von Albertine Sarrazin zu lesen, jeden einzelnen Satz. »Ich bin Diebin gewesen, ich will Schriftstellerin werden. Jede andere Tätigkeit scheint mir indiskutabel.« Albertine Sarrazin ist mit 29 Jahren gestorben, leider. Was hätte aus ihrem Talent alles entstehen können ... »Engel mit gebrochenen Flügeln« (so Patti Smith über die Autorin in ihrem Nachwort über »Der Astragal«) »Eine leere Minute saugt grenzenlose Ewigkeiten ein«, schreibt sie in »Der Ausbruch«. Albertine Sarrazin sorgte mit ihrem kurzen, wilden Leben (1937 bis 1967) im Frankreich als Ganovin für ebenso viel Aufsehen wie später mit ihren literarischen Bestsellern. In der Adoptivfamilie vergewaltigt, aus der Besserungsanstalt geflohen, schlägt sie sich als Kleinkriminelle und Prostituierte durch. Während der vielen Verwahrungen schreibt sie drei Romane, die mit Unterstützung von Simone de Beauvoir erschienen. Im Alter von 29 Jahren wachte sie nach einer Nierenoperation nicht mehr aus der Narkose auf. Ein Arzt hatte die OP eindeutig verpfuscht. Albertines Ehemann verklagte ihn später, sodass der Arzt zu zwei Jahren Gefängnisstrafe verurteilt wurde. Ihr Erstlingswerk »L’Astragale« wurde 1968 von Guy Casaril mit Marlène Jobert in der Hauptrolle und Horst Buchholz als Julien verfilmt. Eine neue Filmversion mit Leïla Bekhti und Reda Kateb in den Hauptrollen entstand im Jahr 2015 unter der Regie von Brigitte Sy.

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