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Der erste Satz: «Sina Krasnowa schob die letzten Scheite in den Ofen, als sie draußen in der Stadt ihrem Mann einen Holzpfahl in die Brust schlugen.» Eine Familiengeschichte, die zwischen 1905 und 2017 spielt, zwischen Zeit und Ort wechselt, beginnend mit den Anfängen der russischen Revolution in der Zarenzeit, zaristische Gewalt, Revolution und stalinistische Tyrannei, Nationalsozialismus, Tuchfabrik in Oberschlesien, Vertreibung, das Leben in der DDR und Wiedervereinigung in Ost-Berlin. Alexander Osang sagt, der Roman sei sein persönlichstes Buch, ein Stochern in der eigenen Familiengeschichte, die Geschichte seiner Großmutter. Viktor Krasnow lebt 1905 mit seiner Familie in Gorbatow. Er ist ein einfacher Seiler, der sich für die Revolution einsetzt, für ein besseres Leben und dafür von «Zarenhäschern» gepfählt wird, seine kleine Tochter Jelena muss dabei zusehen. Seine Frau, Sina, muss nun mit den Kindern fliehen, eine entbehrliche Zeit folgt. 2017: Jelenas Enkel Konstantin, ein Filmemacher, Mitte vierzig, sucht nach einem neuen Filmstoff, eigentlich nach sich selbst, denn er steckt in der Midlife-Crisis. Seine Ehe ist gescheitert und seine Eltern trennen sich gewissermaßen auch. Vater Claus, einst ein berühmter Tierfilmer in der DDR ist dement, kommt nicht mehr so gut mit seinem Leben klar. Der kaltherzigen Mutter wirft Konstantin vor, den Vater abzuschieben. Kaltherzig, ein Stichwort, das sich über die Generationen der Frauen in dieser Familie legt, angefangen mit (J)Elenas Mutter Sina. Die Familie kehrt Anfang der 1929er nach Gorbatow zurück. Die Mutter ist neu verheiratet, mit Alexander Petrowitsch, der Zar ist tot und Stalin herrscht. Nun werden die bestraft, die Jelenas Vater ermordet hatten, der Vater wird nun zum Volkshelden erkoren. Der Stiefvater ist ein grober, brutaler Revolutionär, übergriffig gegen Jelena. Die hat sich in einen jungen Mann verliebt, der aber in die Sowjetarmee eintritt und die Stadt verlässt. Als ein gutaussehender Deutscher taucht auf, Robert Silber, der russische Firmen betriebswirtschaftlich berät – sie klemmt sich dran. Erst als Assistentin, später als Ehefrau. Letztendlich heiratet sie nicht diesen Mann, sondern eine gute Zukunft, eine schicke Villa, eine die aus Stein gebaut ist. Sie bekommt fünf Töchter, zieht mit Robert zunächst nach Moskau, weiter nach Leningrad und später in die heimische Textilfabrik der Silbers nach Sorau in die Niederlausitz, Schlesien. Hier wird aus Jelena Elena von der Familie nicht gerade willkommen geheißen. Die Hausangestellten und Fabrikarbeiterinnen stammen aus dem Frauenkonzentrationslager Christianstadt. Welche Rolle Robert bei den Nazis hatte, wird nie ganz klar, aber irgendwelche Verbindungen wird es gegeben haben, denn er stellte Uniformen für die Wehrmacht in der Fabrik her. Als die russische Armee am Ende des 2. Weltkriegs heranrückt, flieht Robert mit dem wertvollen Familienschmuck, lässt die Frau und Kinder im Stich. Er ist seitdem als vermisst gemeldet. Elena muss mit den Kindern fliehen, zunächst nach Pirna, dann nach Berlin. Dort trifft sie auf ihre ehemals große Liebe. Und auch der verschollene Bruder kommt wieder ins Spiel. Ist er es wirklich oder einer, der sie ausspionieren soll? Der Krieg ist zu Ende, Deutschland wird geteilt, man bleibt im Osten. Die Mauer wird hochgezogen und sie fällt Jahre später – Deutschland ist wieder vereinigt. Es gibt eine Menge Anekdoten in der Familiengeschichte: grandioses, Räuberpistolen oder irgendetwas dazwischen. War Robert wirklich getürmt? Ist er wirklich verschollen und war Viktor Krasnow wirklich ein großer Held? Viele Fragen bleiben offen. Konstantin, der Filmemacher begibt sich auf Spurensuche. Großmutter ist längst verstorben, aber mit ihr nicht die Geschichten. Er beginnt mit den Tanten – in den Interwies halten sie sich mehr oder weniger bedeckt. Warum haben sie so wenig miteinander zu tun? »Man sah das Misstrauen, die Haltlosigkeit, die Ohnmacht, die Trauer, auch die Wut. Aber man fühlte auch Erleichterung, die Betriebsamkeit und den Eifer.« Um eine Geschichte spannend zu machen, kann es ein handwerklicher Kniff sein, im Heute zu beginnen, zurückzugehen, hin und herzuspringen, nicht linear zu erzählen, um Familiengeheimnisse und -märchen aufzudecken. Das gelingt ziemlich gut z.B. in »All die Jahre von J. Courtney Sullivan« und »Die Frauen von La Principal von Luís Llach« – denn hier ist auch die heutige Geschichte ziemlich spannend, verwebt sich mit der historischen. Genau das hat mir hier gefehlt. So richtig mag für mich der demente Vater dort nicht hineinpassen, dem die Erinnerung fehlt, der tapsige Filmemacher, dem im Leben nicht so recht etwas gelingen will (der mir persönlich hin und wieder ein wenig auf die Nerven ging). Zeitsprünge und Erzählsprünge alle paar Seiten, die ständigen Zitate aus Literatur- und Filmgeschichte, die so gar nicht in die Geschichte passen wollten, und die Sprünge, die dann eben zu häufigen Wiederholungen führten haben mir ein wenig den Hörspaß geraubt. Klar, eine lineare Geschichte der Elena Silber wäre sicher spannungsloser gewesen – aber in dieser Form geht die Spannung auch kaputt. Die Berichtform der einzelnen über den Familienclan tötet die Figuren. Man kommt ihnen nicht nahe, insbesondere, da ja oft der eine nur über den anderen herzieht. Es gibt auch Erinnerungen aus der Sicht von (J)Elena – aber die sind so weit entfernt wie der Mond und blutleer. Ihre Geschichte fällt mir zu sehr in den Hintergrund. Das Buch ist nicht schlecht, aber für mich nur Durchschnitt, die Sprache, wie auch die Bilder, konnten mich nicht packen. Interessant ist der Hintergrund, eine Familie, die immer vom System verfolgt wurde, eine Jahrhundertgeschichte: Zarenherrschaft, Stalins Schreckensherrschaft, die Tuchfabrik in Schlesien, Zweiter Weltkrieg, die DDR, Mauerfall – immer wieder eine Wendung in System. Aber genau diese historische Tiefe fehlt mir. Der Anfang ist stark, gepfählte Urgroßvater, der später zum sowjetischen Helden aufsteigt. Aber alles andere ist diffus, irgendwo da draußen, hat nichts mit den Personen zu tun. Familiengeschichten, aufgehübscht – was ist erfunden ist , was wahr – nichts genaues weiß man. Jeder in der Familie kocht sein eigenes Süppchen, arbeitet an einer eigenen Wahrheit. Bloß nicht nachfragen, ob Robert und die NSDAP … Eine komplexe Geschichte, bei der komischerweise die DDR ganz ausgespart wird. Der Vater, ein Tierfilmer, da kann man politisch nichts falschmachen…. Elenas Geschichte endet in der Nachkriegszeit als Übersetzerin, eine Frau, die sich durchschlawienert, »Lebenshaltung«, die nie hinter das System blicken mag. Und dann landen wir 2017. Dazwischen bleibt ein großes Loch. Der geschiedene Mann einer Tante stinkt ein wenig dagegen, aber der ist ein Proll, nicht ernstzunehmen. Viele weiße Flecken der Familiengeschichte bleiben offen, Verdrängung steht ganz groß geschrieben. Das ist in der Realität so. Manches kann man erahnen. Vielleicht hatte ich im Vorfeld zu viel erwartet, inhaltlich – sprachlich – weil das Buch auf der Longlist des deutschen Buchpreises stand. Eine Familiengeschichte des Autors real, inhaltlich interessant, aber als Erzählung für mich am Wesentlichen vorbei, sprachlich kein großer Wurf. Alexander Osang, geboren 1962 in Berlin, studierte Journalistik in Leipzig und arbeitete nach der Wende als Chefreporter der Berliner Zeitung. Für seine Reportagen erhielt er mehrfach den Egon-Erwin-Kisch-Preis, für die beste deutschsprachige Reportage 1993, 1999 und 2001 und den Theodor-Wolff-Preis 1995. Alexander Osang schreibt heute für den ›Spiegel‹ aus Tel Aviv, davor lebte er in Berlin und acht Jahre lang in New York. Sein erster Roman ›die nachrichten‹ wurde verfilmt und mit zahlreichen Preisen, darunter dem Grimme-Preis, ausgezeichnet. Er wurde Reporter des Jahres 2009, erhielt das TAGEWERK-Stipendium der »Guntram und Irene Rinke Stiftung« 2010.