DasIgno
Stettler ist Schaufensterdekorateur im Kaufhaus ›Quatre Saisons‹ in einem Schweizer Städtchen. Er geht auf die 60 und damit seine Rente zu. Aber er ist der Beste, seine Schaufenster stehen seit Jahrzehnten für sich. Stettler könnte einen ruhigen Ausklang seines Arbeitslebens haben. Doch es ist 1968. Alles verändert sich. Die Jugend rebelliert, auf dem Münster ist plötzlich die Flagge des Vietcong gehisst. Und Stettler bekommt Konkurrenz. Der junge Bleicher wird, ihm gleichgestellt, eingestellt. Seine Schaufenster sind revolutionär, sie leben, und die Menschen lieben sie. Stettlers Weltbild beginnt rissig zu werden. Verzweifelt versucht er, seine Welt vor den Umwälzungen zu retten. ›Unhaltbare Zustände‹ ist ein Gegenwartsroman des Schweizer Schriftstellers Alain Claude Sulzer. Das Buch umfasst 266 Seiten und erscheint seit 2019 bei Galiani Berlin, einem Imprint von Kiepenheuer & Witsch. Für das Rezensionsexemplar, das ich über NetGalley bekommen habe, darf ich mich beim Verlag bedanken. Stettler ist sein Leben lang der Schaufensterdekorateur des Kaufhauses ›Quatre Saisons‹. Er ist eine Institution, sein Werk wird bei jeder Enthüllung bewundert. Nach dem Tod seiner Mutter lebt er alleinstehend in der elterlichen Wohnung. Sein Leben ist von festen Strukturen und Werten dominiert, alles in allem ist er ein zufriedener Mann. Doch dann kommen die 68er. Die Jungen rebellieren, die Alten stemmen sich dagegen. Ihr Wertekanon gerät ins Wanken. Auch Stettler bleibt von dieser Entwicklung nicht verschont. Das Kaufhaus stellt Bleicher, einen jungen, rebellischen Künstler an. Erstmals sieht sich Stettler mit Konkurrenz konfrontiert und sein Nimbus bricht schnell zusammen. Bleicher ist kreativ, wagemutig und trifft den Nerv der Zeit. Im Wechsel gestalten sie nun die Schaufenster. Bleichers werden frenetisch gefeiert, Stettlers nicht mehr. Doch Stettler will sich mit diesem Ende seiner beruflichen Laufbahn nicht abfinden. Alain Claude Sulzer gelingt mit ›Unhaltbare Zustände‹ ein faszinierendes Stück Gegenwartsliteratur. Am Beispiel der Umwälzungen der 68er spielt er eine Entwicklung durch, die wohl jede Elterngeneration irgendwann mehr oder weniger hart trifft: Die Jugend verändert die Welt, schafft neue Werte und Konventionen. Und die Elterngeneration sieht sich mit der existenziellen Frage konfrontiert, ob ihre Werte, ihr Weltbild, alles, was sie aufgebaut haben, im Grunde falsch, mindestens aber fehlerhaft war. Der eine passt sich an, geht mit der Zeit, der andere verbittert und verschließt sich. Dazwischen sind zahllose Grautöne denkbar. Stettler gehört zu den Grautönen nahe der zweiten Gruppe. Er stemmt sich gegen die Entwicklung – personifiziert in Bleicher. In einem aussichtslosen letzten Kampf greift er zu Verleumdung und Sabotage. Gleichzeitig entwickelt er eine aufkeimende Briefbeziehung mit der Pianistin Lotte Zerbst. Obwohl abwesend und persönlich unbekannt gibt sie ihm ein Stück weit Halt. Er eskaliert erst, als der Briefwechsel einschläft. Sulzers Schreibe ist flüssig und passend zu der Zeit, in der seine Handlung spielt – beziehungsweise der Zeit, die Stettler verkörpert. Geschickt spielt er mit seiner Sprache, bringt für Stettler undenkbare Worte ein, wo die neue Generation ins Spiel kommt. Stilistisch mag ›Unhaltbare Zustände‹ auf den ersten Blick altmodisch wirken, bei näherem Betrachten folgt der Stil aber dem Inhalt. Das gefällt mir ausgesprochen gut und trägt stark dazu bei, sich gerade in Stettlers Situation versetzen zu können. Sulzers beide Hauptfiguren, Stettler und Lotte, werden ausgiebig mit Tiefe gefüllt. Obwohl Lotte gemessen am Umfang fast eine Nebenrolle spielt, erzählt Sulzer auch ihren Weg zur Radio- und Konzertpianistin detailliert. Ebenso Stettlers Weg zum verantwortlichen Schaufensterdekorateur. Lesende bekommen eine genaue Vorstellung, warum die beiden Figuren an dem Punkt ihrer Leben angekommen sind, an dem sie nun stehen. Dabei wird Sulzer eigentlich nie langatmig. Auch wenn viele Details die Geschichte nicht unmittelbar voran treiben, kam bei mir nie das Gefühl auf, ich hätte es mit Seitenfüllern zu tun. Die Hintergründe der Figuren zu verstehen ist essentiell für das Verständnis ihrer Lage in der Gegenwart des Buches. ›Unhaltbare Zustände‹ ist ein schönes Stück Literatur. Nicht zu lang, nicht zu kurz, mit einer etwas altmodischen, aber sehr angenehmen Schreibe. Sulzer gelingt es ganz wunderbar, den ewigen Konflikt zwischen Jung und Alt am Beispiel der 68er-Jahre in eine alltägliche Geschichte zu verpacken.