SternchenBlau
„Es gibt darin nichts, was es nicht schon gibt.“ Dieses Zitat von Margaret Atwood habe ich irgendwann über ihren Roman „Der Report der Magd“ gelesen. Alle Unterdrückungsmechanismen gegenüber Frauen hätten also eine reale, historische Entsprechung. Dieses reale Grauen hat mich jahrelang, ja sogar fast zwei Jahrzehnte lang, davon abgehalten, dieses Buch zu lesen. Leider, denn Atwood ist wirklich genial, und sie gilt zurecht als Klassiker unter den Dystopien UND als Klassiker feministischer Literatur. Das beides oftmals vermischt wird, ist ein Problem, dem Autorinnen immer noch ausgesetzt werden. Nicht fraternisieren, „sororisieren“ Durch meine lange Weigerung wurde ein sehr merkwürdiger Effekt zusätzlich verstärkt: Nachdem ich so lange das große Drohgebärde erwartet habe, dachte ich mir beim Lesen immer wieder mal: Sooo schlimm ist es auch nicht. Aber das ist das Perfide an so einem System. Solange die Menschen nicht permanent Folter und Gewalt ausgesetzt sind, ist es ja nie ganz schlimm. Darin fügt man sich ein, auch als Leser*in anscheinend, und erst recht als Protagonistin Desfred. Mir lief es kalt über den Rücken, wenn sie den Vollzug der Zeremonie schildert, mit der „ihr“ Kommandant ein Kind mit ihr zeugen soll. Und Desfred betont, dass sie ja zugestimmt habe. Ein Consent, der kein Content ist. Atwoods geniale Struktur erzeugt permanent einen weiteren Effekt: Das könnte ich sein. Also denke ich mir gemeinsam mit der Protagonistin: Bis hierhin lief es noch ganz gut, vielleicht könnte ich meine Tochter ja wiedersehen, und so füge ich mich ein in die Unterdrückung. Attwood orchestriert diese Unterdrückung, zu der Männer, wie Frauen beitragen. Unterdrückung, die letztendlich auch die Männer trifft. Denn wie jeder guter feministischer Ansatz will auch Atwood die Männer ebenfalls vom Patriarchat befreien. Was Atwood zudem meisterhaft gestaltet, ist die Spannung. Ich fiebere mit Desfred mit, ich will nicht, dass sie untergeht. „Fraternisieren heißt, sich wie ein Bruder verhalten. Das hat Luke mir gesagt. Er sagte, es gäbe kein entsprechendes Wort, das sich wie eine Schwester verhalten bedeutet. Sororisieren müsste es heißen, sagte er.“ Und Atwoods Buch sororisiert mich. Geniales Worldbuilding Genial natürlich auch das Worldbuilding, das den totalitären Staat Gilead ganz plastisch vor Augen auferstehen lässt. Das gilt zum einen für die Strukturen und die Besonderheiten, die Atwood zusammenbaut. Das gilt zum anderen aber auch für die Räume und die konkrete Umgebung, in der sich Desfred bewegt, am eindringlichsten natürlich die Mäntel und Hauben der Mägde. Insgesamt schildert Atwood dies alles so plastisch, dass ich kaum einen Bruch zu meiner Vorstellung wahrnehmen konnte, als ich nun die ersten Folge der Serienadaption gesehen habe. Großmeisterin Nach hinten hin, die letzten 10 bis 15 Prozent wurde mir Desfreds Geschichte ein wenig schnell abgehandelt. Und es geht auch um das Konzept der Liebe, auf das ich hier gut und gerne hätte verzichten können. Bei einem aktuellen Buch würde ich dafür vielleicht einen halben Stern abziehen. Hier möchte ich gerne den Bonus gelten lassen, der weißen, alten Männern sonst häufig zugestanden wird, und daher lasse ich ihn auch erst recht bei einer Großmeisterin des Genres gelten: Wer bin ich schon, dass ich die große Atwood kritisieren sollte. Und es ist auch so, Atwoods Buch wurde erstmal 1985 veröffentlicht. Seitdem sind Regelkilometer an Dystopien geschrieben worden, die Atwood zum Vorbild hatten. Natürlich sind wir heute auch anderes gewohnt, weil sie Atwood als Vorbild hatte. Und nach Desfreds Geschichte, da liefert uns Atwood noch eine Art Historikerbericht, ein Blick aus der noch weiteren Zukunft auf die Diktatur Gilead. Hier kommen nur Männer zu Wort und wie leicht von ihnen die Unterdrückung relativiert wird. Aktualität Obwohl der „Der Report der Magd“ bereits 34 Jahre alt ist, bleibt er aktueller denn je, denn Fundamentalisten aller Art und Religionen sind leider weltweit auf dem Vormarsch. Und um die Aktualität zu erkennen, muss man leider nicht einmal in andere Länder gehen. Dazu muss man mal nur blau-braune Politiker von „unseren Frauen“ reden hören oder den Diskurs um die angebliche Abtreibungs-„Werbung“ im Rahmen von § 219a. Oder die Femizide in Deutschland: Jeden Tag versucht ein Mann, seine (Ex)-Partnerin umzubringen. Die Presse benutzt dafür immer noch häufig absolut unpassende und verharmlosende Begriffe wie „Liebes- oder Familiendrama“. Und die Rechtslage ist sogar dort ziemlich bitter, wie Juristin Leonie Steinl kürzlich in einem Interview erklärte: „Es gibt ein Urteil des Bundesgerichtshofs aus dem Jahr 2008. Darin wurde entschieden, dass das Mordmerkmal der niedrigen Beweggründe in Zweifel stünde, wenn ‚die Trennung von dem Tatopfer ausgeht und der Angeklagte durch die Tat sich dessen beraubt, was er eigentlich nicht verlieren will‘. Dann soll kein Mord, sondern nur ein Totschlag vorliegen. Diese Entscheidung spiegelt patriarchale Gedankenmuster wider. Denn es ist eine patriarchale Besitzkonstruktion, wenn davon ausgegangen wird, dass der Angeklagte sich dessen beraubt sieht, was er eigentlich nicht verlieren will. Wenn etwas geraubt wird, muss man es zunächst besessen haben.“ Um zu sehen, wie aktuell dieses Buch ist, muss man sich nur einmal Rezensionen auf Amazon zur Serien-Adaption „Handmaid’s Tale“ durchlesen (worauf ich über Twitter aufmerksam wurde). Der Rezensent trieft nur so von Sexistischen die antimuslimischem Rassismus und wirft dem Stoff vor, warum er nicht "reelle Frauenunterdrückung in islamistischen Ländern" anzuprangern würde. Es wäre schön, wenn in christlichen Ländern so etwas nicht vorstellbar wäre. Leider ist die Realität anders. Atwood hatte beim Schreiben durchaus die erstarkenden christlichen Fundamentalisten vor Augen, die Frauen eben nicht besser behandeln als ihre Brüder im Geiste als beispielsweise im Iran. Fazit Dieses Buch muss man, und frau erst recht, gelesen haben, besonders, weil reale Vorbilder hat. 5 Sterne! Atwoods Buch ist zurecht ein Klassiker!