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schnick

Posted on 25.10.2019

"Deswegen isst jede Puppenmama den Brei am Ende selbst, deswegen aßen die Israeliten all die geopferten Tauben und Lämmer am Ende selbst. Ein Leben lang versuchen, einer Puppe das Essen beizubringen, das ist Glaube." Es gibt nur wenige Bücher, die stark anfangen und sich trotzdem von Kapitel zu Kapitel steigern. "Kein Teil der Welt" gehört dazu, und obwohl ich hier mit vom Weinen geschwollenen Augen sitze, könnte ich nicht zufriedener sein.  Denn Stefanie de Velasco erzählt in nüchternem Ton und doch immer wieder wunderschönen, bildhaften Sätzen und Worten die Geschichte einer jungen Frau, die von Geburt an den Zeugen Jehovas angehört, und deren besten Freundin. Wir erleben in Rückblenden, wie Esther und Sulamith sich kennenlernen, wie sie aufwachsen und in einer Welt leben, die - wie es in der Inhaltsangabe so schön formuliert ist - "mitten in der unsrigen existiert und dennoch kein Teil von ihr ist".  Esther und ihre Eltern sind vor kurzem von Geisrath am Rhein überstürzt nach Peterswalde - den Geburtsort von Esthers Vater - gezogen, um dort die Gunst der Stunde (nämlich die Nachwendezeit) zu nutzen und neues Leben in die dortige Gemeinde der Zeugen Jehovas zu bringen. Von Anfang an wird klar, dass Esther Sulamith wahnsinnig vermisst. Sie hat heimlich Kleidung von Sulamith mitgenommen, um weiterhin ihren Duft atmen zu können, sie denkt täglich an Sulamith, aber was mit Sulamith geschehen ist, das werden wir erst nach und nach im Verlauf des Buches erfahren. Esther gibt selbst an einer Stelle des Buches zu: "Als Kind wunderten mich solche Geschichten nicht".  Es ist Sulamith, die zunächst rebelliert. Sie stellt Fragen, forscht. Sie legt einen faulen Apfel zu gesunden Äpfeln, um zu überprüfen, ob er wirklich die anderen Äpfel ansteckt, wie es in der Bibel steht, und stellt ihre Mutter und Esthers Eltern zu Rede, als das nicht passiert. Es ist Sulamith, die anfängt, die Regeln in Frage zu stellen. Der ultimative Akt der Rebellion aber ist die Liebe zu einem "Weltmenschen".  Esther, obwohl sie Sulamith über alles liebt und sie nicht verlieren möchte, hält sich weitestgehend heraus: "Ich weiß nicht, woran ich sonst glauben soll, wollte ich sagen. Dass ich Angst habe vor dem Loch, das Jehova hinterlassen würde, wollte ich sagen, Angst vor dem Leben ohne ihn , ohne Mama und Papa, ohne die Versammlung, Angst vor einem Leben da draußen, wo ich niemanden kannte (...)." Diese Angst lässt Esther lange Zeit erstarren - vor allem geistig. Sie versucht, es allen recht zu machen und es führt zu den erwartbaren Konsequenzen.  "Kein Teil dieser Welt" ist herzzerreißend - und zwar genau deshalb, weil Stefanie de Velasco es unterlässt, auf die Tränendrüse zu drücken. Sicher, sie schafft mit ihren Worten teilweise wunderbare Bilder, aber sie trägt die Geschichte in einem so nüchternen Ton vor, dass man sich dem Roman schwer entziehen kann. Es ist gerade die Selbstverständlichkeit, mit der die Protagonistin und Ich-Erzählerin Esther von ihrem Leben bei den Zeugen Jehovas erzählt, die den Roman so fesselnd machen. Es ist auch diese Selbstverständlichkeit, die bei mir teilweise für Entsetzen sorgte, für Gänsehaut, weil diese Welt, die sie beschreibt, so weit weg ist von der Welt, in der ich lebe. Aber da ist auch diese wunderbare Liebe von Esthers zu Sulamith, dieses Vermissen, das Sehnen nach der Freundin und eben auch das Erwachsenwerden, die Emanzipation und - ganz am Ende - die Hoffnung.  Stefanie de Velasco ist ein wunderbares Buch gelungen. Ein Buch, das auf eine Art und Weise berührt, die ich anfangs nicht für möglich hielt, ein Buch, das mich packte und am Ende hemmungslos weinend und doch voller Hoffnung zurückließ.

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