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gwyn

Posted on 25.10.2019

»Wer glaubt, er habe den Libanon verstanden, dem hat man ihn nicht richtig erklärt, lautet ein libanesisches Sprichwort. Wie hätte ich damals wissen sollen, dass dieses Bild mich für immer verfolgen würde.« Das ist für mich ein »Ja, aber – Roman«. Auf der einen Seite fand ich ihn ganz gut, dann aber so gar nicht. Ich liebe die arabische Erzählweise: ein wenig ausschweifend, da in jeder Geschichte eine Menge kleiner Geschichten versteckt sind, poetisch erzählt, ohne in Kitsch zu gleiten, großes Leid, das sofort von schelmischem Humor gerettet wird – eben große Erzählkunst. Das gelingt Pierre Jarawan nicht: Es ist eine arabische Geschichte, die in europäischer Erzählform daherkommt, die Poesie hier leider in Kitsch gleitet, der der subtile Humor fehlt, Historisches manchmal als Lexikonwissen eingebettet ist. Aber andererseits ist die Familiengeschichte nicht schlecht und man erfährt eine Menge über den Libanon. Das war es wert, diesen Roman zu verfolgen, auch wenn ich an manchen Stellen zusammenzuckte. »Beirut bei Nacht, diese funkelnde Schönheit, ein Diadem aus flirrenden Lichtern, ein Band aus Atemlosigkeit. Schon als Kind liebte ich die Vorstellung, einmal hier zu sein. Doch jetzt steckt mir dieses Messer zwischen den Rippen, und der Schmerz schießt in meinen Brustkorb, dass ich nicht mal schreien kann. … Ich rieche das Salz in der Luft und den Staub und die Hitze. Ich schmecke Blut auf meiner Lippe, ein metallisches Rinnsal auf trockener Haut. Ich fühle Angst in mir aufsteigen. Und Wut. Ich bin nicht fremd hier, will ich ihnen hinterherschreien.« Samirs Eltern waren aus dem Libanon nach Deutschland geflohen, zusammen mit Hakim und seiner Tochter Yasmin. Keine real bedrohten Kriegsflüchtlinge, ihre Kinder sollten es schlicht besser haben, nicht in einem Kriegsgebiet aufwachsen, den Bruderkrieg im Nacken. Die Familie erhält Asyl. Die beiden Kinder werden in Deutschland geboren, die Familie ist gut integriert. Samir liebt seinen Vater, der so wundervolle Geschichten aus dem Land der Zedern erzählt, dem Libanon. Als Samir acht ist, verschwindet der Vater spurlos, meldet sich nie wieder. Für den Jungen bricht eine Welt zusammen. Und als ein paar Jahre später die Mutter an Krebs verstirbt, nimmt der Nachbar Hakim die beiden Geschwister auf. Samir entfremdet sich immer mehr von seiner Schwester und seiner besten Freundin Yasmin. Beide Mädchen studieren, fühlen sich als Deutsche. Samir verspürt ein dauerndes Heimweh nach dem Libanon, ohne jemals da gewesen zu sein – es ist die Trauer um den Vater, den er vermisst, den er verstehen will, ein Stück Identitätsverlust. Samir arbeitet als Bibliothekar und verstrickt sich in der Spurensuche nach dem Libanon, nach seinem Vater, er liest alles, was er in die Finger bekommt, verliert dabei sogar seinen Job. Er mach sich auf in den Libanon, 20 Jahre, nachdem sein Vater verschwunden ist, ihn zu finden. Ein Mann auf der Suche nach seiner Familiengeschichte, nach seiner Identität, nach sich selbst. Was uns dieser Icherzähler aus seiner Kindheit den ersten acht Jahren seiner Kindheit erzählt, ist bemerkenswert, etwas viel für das Gedächtnis eines kleinen (recht weisen) Jungen. Das wirkt ein wenig aufgesetzt. Andererseits beschreibt der Autor das Leben in einer fast abgeschlossenen Enklave in Berlin. Eine Straße, in der Libanesen leben, sehr libanesisch, arabisch sprechen, arabische Musik hören, Filme schauen, sich libanesisch kleiden, essen, Feste feiern usw. Man sitzt vor der Tür, erzählt Geschichten vom ach so wundervollen Land der Zedern, man schwelgt in Heimweh und theatralischer Erinnerung. Von Wind, Kälte und Schnee in Berlin keine Spur. Wenn man im Ausland lebt, rottet man sich zusammen, redet von der guten Heimat. – So machen das auch Deutsche im Ausland. – Das Problem dabei ist, dass die schlechten Erinnerungen sich selbstständig aus dem Gehirn löschen und das Gehirn kein Update macht – man lebt in der Vergangenheit, eben jener Zeit, in der man das Land verlassen hat. Es herrscht ein allgemeines Wohlgefühl, teils Heimweh, das auf die Kinder übertragen wird – die letztendlich mit diesem Land der Väter und Mütter nicht viel zu tun haben – sie aber mit dem täglichen »Muss« der Aufrechterhaltung der Traditionen gehindert werden, ganz in ihrem Geburtsstaat anzukommen. Die Kinder wachsen zerrissen auf. In dieser Geschichte konnten sich die Mädchen gut lösen. Die Protagonistinnen bleiben leider dem Leser sehr fern, auch wird das sehr starke libanesische patriarchische Verhalten nie dargestellt. Diese Männer hier sind alle ganz herzig und die Frauen stehen gleichberechtigt neben ihnen. Komisch, solche Libanesen habe ich bisher nicht kennengelernt. Hier wird eine warme nette, in sich geschlossene Gesellschaft gezeigt, in der sich alle liebhaben.. Die Geschichte plätscherte dahin. Alle Protagonisten agieren freundlich ... Wo bitte bleiben die Schurken in dieser Geschichte, die man zur Spannung benötigt, zur Identifikation. Na gut, wir haben hier keinen Helden, sondern einen Antihelden, der sich selbst der Antagonist ist. Aber was für ein netter, kauziger … Viele Szenen sind sprachlich zu überladen, die Protagonisten bleiben flach, sogar der Icherzähler bekommt für mich keine Persönlichkeit. Wo bleibt die arabische Sprache, die Härte, die fiesen Typen, die Tritte gegen Schienbeine, die Listigen und der subtile Humor? Hier gibt es am laufenden Band nur nette Helfer. Es wird glitschig im flüssigen Zuckerguss, vernebelt von Zuckerwatte in Handlung und Sprache, mir persönlich zu herzig, zu langweilig, zu unglaubwürdig. Und das Ende ist pilchergerecht gesetzt, Taschentuch nicht vergessen. So weit hat mir der Roman nicht gefallen. Pierre Jarawan spricht sie doch an, die Klippen der Integration: Straßenzüge voller Libanesen, über sein Aussehen wird er außerhalb der Community sofort als Ausländer identifiziert – auch wenn man ja gar keiner ist, und in diesen Fall auch noch sexy exotisch, von den Mädchen umschwärmt. So richtig dazugehörig fühlt er sich nie. Warum lösen sich die weiblichen Protagonistinnen aus dieser Gesellschaft heraus? Studium, deutscher Freund – das ist billig. Es gäbe genügend Stoff, hier etwas tiefer zu bohren. Was mir wiederum gut gefallen hat, ist die Verknüpfung der Geschichte mit der Geschichte: die Zedernrevolution, der Mord an Hariri, der Einfluss von Israel und Syrien im Libanon. Man lernt eine Menge über die libanesische Geschichte, den Bruderzwist. Aber – auch hier wieder ein aber – das ist nicht fließend integriert, sondern klingt an viel Stellen so, als wenn der Icherzähler Samir in der Bibliothek sitzt und uns aus seinen Fundstücken vorliest. Insgesamt zwar ein etwas kitschiger Roman, dem Pfeffer fehlt, aber auf der anderen Seite recht lesenswert. Pierre Jarawan wurde 1985 als Sohn eines libanesischen Vaters und einer deutschen Mutter in Amman, Jordanien, geboren, nachdem diese vor dem Bürgerkrieg geflohen waren. Im Alter von drei Jahren kam er mit seiner Familie nach Deutschland. Seit 2009 tritt er als Poetry Slammer auf, 2012 wurde er Internationaler deutschsprachiger Meister in dieser Kunstrichtung. Für diesen Roman erhielt er diverse Auszeichnungen, er wurde übersetzt in viele Sprachen, als internationaler Bestseller erfolgreich.

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