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drwarthrop

Posted on 15.10.2019

Es ist der 21.09.2007, als Ruth Schwarz den Anruf bekommt, vor dem sich jedes Kind fürchtet: ihre Eltern sind bei einem Autounfall ums Leben gekommen. Ruth, die seit Jahren an ihrer Habilitation schreibt (inklusive steigendem Medikamentenmissbrauch) fühlt sich durch diesen Umstand eher gestört, als emotional betroffen. Um dem letzten Wunsch der Eltern Genüge zu tun, in ihrem Heimatdorf beerdigt zu werden macht Ruth sich auf den Weg das auf keiner Karte verzeichnete Provinznest „Groß-Einland“ aufzusuchen. Nach mehr als einer Woche intensiver und ereignisloser Suche findet sie mit dem letzten Röcheln ihres Wagens den Ort und darf nur aus Kulanz eine Nacht im Gasthof übernachten; Fremde sind nicht gern gesehen. Geleitet wird diese verschworene Gemeinschaft von einer ominösen Person, die alle nur „die Gräfin“ nennen und die die volle finanzielle und politische Alleinherrschaft genießt - samt eigentümlicher Geheimniskrämerei. Schon bei der Ankunft bemerkt Ruth verzogene Gebäude, kaputte Fenster und einen alles andere als lotrechten Kirchturm. Der Eindruck täuscht nicht, denn die Groß-Einländer haben ein gigantisches Problem direkt unter ihren Schlafstätten: ein kolossales, durch illegalen Bergbau hervorgerufenes Loch das die ganze Stadt langsam, aber sicher, Stück für Stück in den Abgrund zieht... Gekonnt hüllt das Werk seine Narrative in eine traumhafte, undurchdringliche Membran, dessen trügerische Geborgenheit faszinierende Wahrheiten hervorbringt, sowie charakterliche Feinheiten nuanciert zu präsentieren vermag. In flamboyanter Manier werden die Figuren farbenfroh-pittoresk im Kaleidoskop eines literarischen Schnappschusses gebannt und als kleine Fragmente in Fleißarbeit puzzleartig zusammengesetzt. Ruth agiert zumeist ergeben, lässt sich vom ominösen Treiben mitschwemmen, verliert dabei den festen Boden unter den Füßen und verirrt sich zusehends in den wirren Gefilden, Bräuchen und non-realen Devisen luzider Illusionslogiken, dessen Grenzen zur Realität gänzlich zu verschmelzen drohen. Zusehends entfaltet die Geschichte eine sublime Metaphorik exponentieller Dringlichkeit, die sich bodenlos durch jede Ebene frisst und dabei tiefe, blutende Wunden ins eigene Moralkorsett reißt: keine Gnade durch Verherrlichung. Geprägt durch nüchterne, statische Diktion leitet die Autorin durch das märchenhafte, träumerische Gewand ihrer zeitlosen Erzählung und entfaltet dabei ein grandioses Schauspiel menschlicher Egozentrik im Angesicht unausweichlicher Eruption. Gekonnt werden die Grenzen sicherer, wohliger Logiken aufgebrochen - flimmern im Dickicht sinistren Panorama menschlichen Versagens. Einträglich vereint das Werk die stille Verbindung zwischen Leben und Materie, im modernen Nihilismus-Pyjama. Selten Unterbrochen durch reale Begebenheiten verliert auch der Leser schnell jedes Verhältnis zu Zeit, Raum und der eigenen Psyche. Die Autorin leitet mit kafkaesker Erzählstruktur brillant durch die feingemahlenen Gebilde menschlicher Arroganz und dem letzten verzweifelten Aufbäumen vor dem unausweichlichen Ende. In flammendem Kontrast stehen dabei Narrative und Diktion - das eine märchenhaft und pittoresk, das andere kalt und grau, wodurch konventionelle Konturen verschwimmen, ohne jemals komplett in die Irrationalität abzuschweifen. Zudem injiziert das Werk eine nahezu unbedingte, wehmütige Begierde in dieser Welt aus kleinen, schiefen Häusern zu verschwinden - sich wie Ruth in den Problemen eines verzerrten Panoptikums zu verlieren, um vielleicht nie wieder zurückzukehren. Eine mitreißende, lyrische und geniale Geschichte, die auf verspielte Art den ambivalenten Kern der aktuellen Zeit perfekt einfängt und damit herrlich parodiert. Gekonnt zeichnet Raphaela Edelbauer ein märchenhaftes, farbenfrohes Bild einer lächelnd untergehenden Gesellschaft, von bitteren Vorgeschichten und der aufgestauten Last, die alles zu verschlingen droht, was jahrelang unter der Oberfläche vor sich hin geköchelt hat. Zurecht einer der Shortlist-Kandidaten für den deutschen Buchpreis 2019 und jetzt schon eins meiner Jahreshighlights: uneingeschränkte Empfehlung.

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