cookie02
Lillys Schreibstil ist ohnegleichen. Entweder man liebt ihn, oder man hasst ihn. Ich liebe ihn, schon seit ihrer allerersten Zeile. Deshalb habe ich alle ihre bisherigen Bücher gelesen. Und für mich war deshalb auch sofort klar, dass ich mir auch "Winterwassertief" kaufen würde. Lillys Autobiografie "Splitterfasernackt" ist vor über 3 Jahren erschienen. Dies ist eine Fortsetzung. Daher würde ich jedem empfehlen, der "Splitterfasernackt" noch nicht gelesen hat, dies nachzuholen, bevor man "Winterwassertief" liest, denn ansonsten wird man wohl vieles nicht verstehen. In "Winterwassertief" erzählt Lilly, wie sie ihren Verleger kennengelernt und einen Verlag gefunden hat. Sie beschreibt den langen Weg, bis ihre Autobiografie endlich erschien, wie verzweifelt sie manchmal war, wie schlecht es ihr ging, aber auch was ihr Hoffnung gab. Doch sie erzählt noch viel mehr. Zwischen den Kapiteln, die sich in der "Gegenwart" (also 2010 bis 2014) abspielen, finden sich immer wieder Kapitel, in denen sie Szenen aus ihrer Kindheit und Jugend beschreibt. Manche handeln von ihrer Entführung mit 17, manche von ihrer Zeit im Bordell, und manche von irgendwo davor und dazwischen. Diese Szenen ergänzen die Geschehnisse, von denen man in "Splitterfasernackt" gelesen hat, auf eine sehr schmerzvolle Weise. Nach und nach ist mir vieles, was ich damals gelesen habe, klarer geworden - wie viel Gewalt, Schrecken und Schmerz sie wirklich erdulden musste. Sie beschreibt, wie sie sich selbst verletzt, wie sie sich bis zur Bewusstlosigkeit hungert, und ich hätte sie am liebsten in den Arm genommen, weil ich durch ihre Worte ihren Schmerz und ihre Gründe verstehen konnte, und doch konnte ich nichts tun, als weiter zu lesen. Eine Stelle hat mich besonders mitgenommen. Sie beschreibt dort eine Szene von dem Wochenende, an dem sie mit 17 entführt wurde. Ich war auf dem Weg nach Hause und fing mitten in der überfüllten S-Bahn an zu weinen. Und das, was Lilly da beschreibt, ist so schrecklich, dass es mir nicht mal peinlich war. Trotz dieser so unglaublich traurigen Geschichte schafft es Lilly zwischendurch immer wieder, mich durch ihre Sprache zum Lächeln zu bringen: "Und wenn sie dein Leben zusammenfassen, mit den Worten vergewaltigt, verwahrlost, verkauft, dann schreib zurück: 'Vergewaltigt, verwahrlost, verkauft - dabei gibt es doch so viele andere schöne Worte mit V. Zum Beispiel Volkswagen oder Volvo. Ist ja schließlich eine Autobiografie.'" (S. 269) Zum Ende des Buches gibt es noch einige Kapitel, in denen sie von ihren Begegnungen mit Lesern und Leserinnen erzählt. Da ich selbst schon auf einigen ihrer Lesungen war, haben mir diese Kapitel ganz besonders gefallen. Es hat mich so berührt, als sie von den Menschen erzählt hat, die nach ihren Lesungen auf sie zugekommen sind und sich ihr anvertraut haben - wie viele schmerzende Seelen es da draußen gibt, von denen wir gar nichts ahnen. Das Buch hat mit viel Hoffnung geendet und in mir ein gutes Gefühl hinterlassen. Lilly steht in meinem Regal, genau wie in meinem Herzen. Fazit: "Winterwassertief" ist eine Autobiografie. Man kann ein Leben nicht mit Sternen, Punkten oder sonst was bewerten. Daher möchte ich betonen, dass ich hier nicht Lillys Geschichte bewerte, sondern lediglich ihr Buch. Die Fragen, die ich mir gestellt habe, waren: Gefällt mir ihr Schreibstil? Kann ich dem Aufbau folgen? Kann mich ihr Buch fesseln? Kann es mich bewegen? Kommt das, was sie mir erzählen will, bei mir an? Werde ich mich an dieses Buch erinnern? Hat es sich gelohnt, dieses Buch zu lesen, auch wenn ich "Splitterfasernackt" schon kannte? Und kann ich auch, wenn die allerletzte Seite umgeblättert wurde, noch immer nicht genug bekommen? Auf all diese Fragen gibt es für mich nur eine Antwort. Volle 5 Sterne.