drwarthrop
Was ist eigentlich nach dem Ende von 'der Report der Magd' mit Desfred passiert? Wie und vor allem warum ist Gilead gefallen? Diesen und weiteren offen gebliebenen Fragen geht Margaret Atwood etwa 25 Jahre nach Erscheinen des ersten Teils mit 'die Zeuginnen' endlich nach. Die Geschichte wird aus drei Perspektiven erzählt, die unterschiedlicher nicht sein könnten. Zum einen erfährt der Leser durch Agnes die Sicht eines jungen, privilegierten Mädchens in den repressiven Gefilden Gileads auf dem Weg eine 'ehrbare' Ehefrau zu werden. Zum anderen beleuchtet Atwood auch die Perspektive Außerhalb durch die Augen von Daisy, die mit ihren Eltern in Toronto lebt. Diese betreiben ein kleines Second-Hand-Geschäft, in dem immer wieder merkwürdige Gestalten auftauchen. Zu guter Letzt ist die fingierte Autorin des Werkes, Tante Lydia zu erwähnen, die bereits dem aufmerksamen Leser (zu denen ich nicht gehöre) aus Teil 1 bekannt sein sollte. Sie beschreibt die Arbeit als 'Obertante': konspirative Absprachen, perfide Gesprächstaktiken und Reduzieren der vom Staat verursachten Schäden. Fulminant spinnt Atwood über die Länge von etwa 600 Seiten ein spannendes Beziehungsgeflecht, das sich stark festigt, über die Zeit immer engmaschiger wird, um schlussendlich zum Grande Finale zu fusionieren. Atwood bedient sich, wie bei eigentlich all ihren Werken einer einfühlsamen Sprache, als auch organischen Figuren, die bereits zu Beginn begeistern. Gerade durch die schicksalhafte Verknüpfung des Lesers mit dem fingierten Schriftstück, als auch den Geschehnissen entfaltet sich eine persönliche Ebene, die vergleichbaren Werken fehlt. Im Kontrast zu 'der Report der Magd' schlägt der Roman durch die häufigen Wechsel eine weitaus spannenderen Bogen und vermittelt zudem wunderbar die unterschiedlichen Aspekte der einzelnen Personen im Bezug auf den Staat. Zudem werden harte Themen, wie Missbrauch oder drohender Tod im Einklang mit den herrschenden Oppressionen fast heimlich, rebellisch verarbeitet, sind jedoch in der Aussage umso aggressiver. Noch durch die Seiten wird der schmerzliche, brutale Schrei der Unterdrückung laut und hämmert sich nachdrücklich ins Gehör. Weiterhin sei anzumerken, dass sowohl durch die Zeuginnen selbst, als auch durch verschiedene Einflüsse didaktische Änderungen vollzogen werden, durch die grandios expressive Feinheiten präsentiert werden. Die fragmentartige Erzählung der Protagonistinnen ergänzt sich brillant mit der von Atwood geebneten Narrative und ergibt so ein imposantes Feuerwerk der Emotionen, das stellenweise etwas zu überleuchtet erscheint. Meine zuerst noch zögerliche Reaktion auf das so lang angekündigte Werk haben sich, zum Glück nicht bestätigt. Im Spiegellabyrinth moralischer Konflikte eingeengt erlebt man hier eine langersehnte und nötige Sprengung aus herrschenden Systemen, die trotz der fiktiven Adaption mehr als nur einen wahren Kern trifft. Abgerückt von dystopischer Narrative entfaltet sich eine spannende, emotionale und mitreißende Geschichte einmaliger Präsenz, die zu überzeugen weiß, jedoch auch gerne etwas übers Ziel hinaus schießt. Fans vom ersten Teil greifen zu, der Rest liest Probe.