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gwyn

Posted on 27.9.2019

Der Anfang: »Als ich aufwachte knallte der Lötbrenner schon voll vom Himmel. Ohne Scheiß, es war noch nicht mal neun, und meine Bude schien zu schmelzen.« Es gibt wenig Literatur über die Elendsgebiete in Südamerika, über die Favelas in Rio, die ins Deutsche übersetzt wurden. Die Erzählungen von Geovani Martins bringen authentisch in der Sprache das Leben in den Favelas von Rio zum Ausdruck – Prosa aus dem Elendsviertel. In der Nacht musst du auf den Straßen mit allem rechnen, das tägliche Leben ist rund um die Uhr von Gewalt und Drogen geprägt. Wer hier nichts zu suchen hat, wird als Eindringling betrachtet. Es berichten verschiedene Männer verschiedenen Alters aus ihrem Leben, ganz normaler Alltag. Dope, Crack und vor allem Lanca-Perfume, auch Loló genannt, gehören zum Leben, Spezialeinheiten der Polizei trampeln durch die Gassen und schießen auf alles, was sich bewegt. »Die Typen sind echt süchtig, ohne Scheiß, so was hab ich noch nicht gesehen. Zehn Uhr morgens, die Sonne knallt wie Sau, und die hauen sich das Zeug in die Nase.« Typen, die ziemlich locker auf cool machen, geht in Gefahrensituationen der Arsch auf Grundeis. Und auch in dieser Gesellschaft herrscht ein striktes Gesetz. Hast du Bockmist gemacht, musst du die Leiche selbst entsorgen, da hast du niemanden, der dir zur Seite steht und obendrein wirst du geächtet, verjagt aus dem Bezirk. Da werden Kiffer am Strand gejagt, sie sind nun selbst die Verfolgten. Glück gehabt: Wir haben nur ein paar Krümel Dope – wir sind Einheimische, wie ihr, keine Touris mit Geld in der Tasche … Gangs, Drogenbosse, Pistolen, Pumpguns, Kalaschnikows und M-16-Gewehre gehören zum Alltag, wie die ganze Batterie an Drogen, die öffentlich auf der Plaza angeboten werden. Ein Dealer sagt, er kann sich nichts leisten, irgendwann mal hat er sich einen Flachbild-TV gekauft – er ist getrieben vom Eingenbedarf und anschließenden Fressattacken – reich werden kann hier niemand, nur die Bosse. »Jemand anders erschrak, und ich stellte fest, dass ich der Grund der Bedrohung bin.« Angst durchzieht die Erzählungen, Angst auf die Straße zu gehen, aber auch im Haus ist man nicht sicher, denn die Polizei kennt kein Pardon, wenn die Spezialeinheit durch die Gassen pflügt, Türen eintritt. In dieser Minute den dicken Macho heraushängen lassen, um ein paar Minuten später fast in die Hose zu machen – ein ständiges auf und ab. Angst, in eine Situation zu geraten, mit der man nichts zu tun hat, einfach nur, weil man zur falschen Zeit am falschen Ort ist. Wer hier wohnt, hasst beide Seiten, die Polizei und die Drogenbosse, zermürbt in der Mitte – wobei – die Dealer bieten wenigstens noch Rauschmittel an, mit denen man sich wegträumen kann. Wer oben in den Favelas wohnt, geht hinunter in die Stadt, um zu arbeiten, aber wer unten wohnt, hat keinen Schimmer, wie es oben aussieht, traut sich nicht dort hinein. Wozu auch? »Wenn du durch die engen Gassen läufst, zwischen Unmengen von Rohren die Treppen runtersteigst, über offene Abwasserrinnen springst, den Ratten in die Augen guckst, den Kopf einziehst, um Stromleitungen auszuweichen, siehst, wie alte Kindheitsfreunde schwer bewaffnet durch die Gegend laufen, und dann eine Viertelstunde später vor einem Haus stehst, wo die Gitterzäune an den Wegen mit Zierpflanzen geschmückt sind und du zuschaust, wie Jugendliche privaten Tennisunterricht bekommen, kann das ganz schön hart sein. Alles ist sehr nah und gleichzeitig weit weg. Und je älter wir werden, desto höher werden die Mauern.« Die Erzählungen klagen niemanden an, sind schonungslos berichtend, zeigen das Gesellschaftsbild des heutigen Brasiliens, und man hört heraus, dass hier jemand von innen schreibt, aus der Sicht der Bewohner der Favelas. Ein krasses Oben und Unten, ein tiefer Schnitt durch die Gesellschaft, die Mitte existiert schon lange nicht mehr. Der Originaltitel des Erzählungsbandes lautet »O sol na cabeça«: »Die Sonne auf meinem Kopf«, und trifft für mich besser den Kern. Köpfe unter der Sonne der Copa Cabana im Dauerrausch, Ekstase, weil es keine Zukunft gibt. Was mir allerdings fehlt, ist die weibliche Stimme. Mädchen, Mütter, Ehefrauen, Witwen, Huren, fünfzig Prozent der Menschen in den Favelas sind Frauen. Und es ist ärgerlich, dass ihre Stimmen hier fehlen. Machismo! Diese Erzählungen wären ziemlich gut, wenn auch Frauen zu Wort gekommen wären, hier sind sie nur Beiwerk. Auch ein Ausdruck für die brasilianische Gesellschaft. Da hier nur die Hälfte der Gesellschaft spricht, bleibt ein Beigeschmack: 13 Geschichten, 13 Männer. Geovani Martins, 1991 in Rio de Janeiro geboren, hat vier Jahre lang die Schule besucht und danach als Plakatträger und Kellner in einem Standzelt für Kinder gearbeitet. »Aus dem Schatten« ist sein Debüt: in Brasilien ist es eingeschlagen wie eine Bombe, Martins wird dort – wie inzwischen auch international – als die Stimme eines Neuen Realismus gefeiert.

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