Sophie Weigand
Eine Frau läuft. An der Alster entlang und überholt von passionierten Langstreckenläufern mit Tracking-Gadgets versucht sie, in der Bewegung den Verlust zu begreifen, den sie gerade erlitten hat. Laufen ist ein Bewusstseinsstrom und die Rückeroberung eines Lebens. Laufen, so heißt es immer wieder, ordnet die Gedanken. Ein absichtsloses Spazieren ebenso wie die Fortbewegung im Laufschritt. Die Bewegung gibt den Rhythmus vor und Gedanken können ungehindert fließen. Von Ordnung ist in den Gedanken von Isabel Bogdans Protagonistin zunächst wenig zu spüren. Es ist lange her, dass sie zuletzt gelaufen ist. Jetzt versucht sie das Laufen zu nutzen, um mit sich selbst in inneren Dialog zu treten. Unlängst hat ihr Partner sich das Leben genommen. Alles ist überschattet von dieser Katastrophe, die zu viele Fragen hinterlassen hat, um sie jemals zu beantworten. Die Protagonistin wusste von seiner Depression, deren Ausmaß als Krankheit sie erst wirklich zu begreifen beginnt, als es zu spät ist. Sie macht sich Vorwürfe. Das Leid des Partners nicht bemerkt zu haben, keine ausreichende Stütze gewesen zu sein. Sie ist wütend, dass er sie einfach alleingelassen hat. Sie läuft weg vor seinem Tod und der schmerzlichen Erkenntnis, dass sie nichts hätte tun können. "(…) es wäre diesmal nicht so schlimm und du bräuchtest keine Hilfe und wenn doch, würdest du wieder zum Superdoc gehen, und ich habe dir geglaubt, du warst ja immer noch lustig, manchmal jedenfalls, denn wenn die Seele kaputtgeht, heißt das nicht, dass auch der Humor kaputtgeht, aber das weiß ich erst jetzt." Laufen ist intensiv, kompromisslos in seiner Innensicht, in dem niemals endenden Gedankenstrom und der Ruhelosigkeit. Ein Gedanke folgt auf den nächsten wie Dominosteine, die einander anstoßen. Einige Gedanken kehren immer wieder und während die Protagonistin im Außen ihre Runden läuft, kreisen im Inneren die Fragen. Die Kreisbewegungen außen und innen fallen ineinander. In stetiger Reflexion greift Bogdans Protagonistin auf, was Depression bedeutet, nicht nur für die Betroffenen, sondern auch für die Angehörigen. Depression als Krankheit und nicht als Charakterschwäche zu begreifen, die mit ausreichender Willensstärke zu beheben wäre, ist wichtig. Für die Protagonistin, die im wahrsten Sinne des Wortes „schrittweise“ spürt, dass der Suizid nicht in ihrer Verantwortung liegt. Depressionen reagieren nicht auf wohlmeinende Ratschläge. So wenig wie Trauer es tut. Immer wieder mischt sich Wut in die Gedanken, über Freund*innen und Bekannte, die den Schmerz und die Verzweiflung der Protagonistin nicht aushalten. Dabei ist es wichtig, einen Raum zu schaffen, in dem Dinge schlecht sein dürfen, ohne Durchhalteparolen oder falsche Erwartungen. Viele wollen die Protagonistin nicht nur um ihrer selbst willen wieder glücklicher sehen, sondern vor allem deshalb, weil sie die Trauer und Hilflosigkeit selbst nicht aushalten. Langsam müsse es doch gut sein, hört sie immer wieder. Man müsse darüber wegkommen. "(…) und das hilft tatsächlich ein bisschen, dass der Schmerz zwar ganz allein meiner ist, ich aber nicht die Einzige bin, und die Ahnung, dass andere auch einen Umgang damit gefunden haben, macht immerhin ein kleines bisschen Mut, wenn auch den Schmerz nicht leichter. Man wird ihn ja nicht los, aber vielleicht kann man ihn in ein Regal stellen und da stehen lassen, statt ihn immer mit sich herumzuschleppen. Er wird nicht besonders hübsch aussehen, aber so ein Herz ist ja auch kein Einrichtungsmagazin." Isabel Bogdan webt subtil Veränderungen und Entwicklungen in ihren Text hinein, die nicht spontan und plötzlich eintreten, sondern eher einem prozesshaften Wandel gleichen. Das Laufen wird einfacher. Das Atmen ruhiger. Aus den hektischen Atemzügen des ein ein aus aus aus aus, eingeschoben zwischen rasenden Gedanken, wird ein einatmen ausatmen ausatmen. Spricht die Protagonistin ihren verstorbenen Partner zunächst noch direkt an, stellt sich im Laufe des Textes eine Distanz zu ihm ein. Aus dem Du wird ein Er. Sie kann den Friesennerz – wie sie die schwere Trauer nennt – immer wieder mal ablegen und die Sicht schärfen. Es sind Kleinigkeiten, die eine bedeutsame Änderung markieren. Sie kauft sich ein neues Bett, trägt ein rotes Kleid, statt nur schwarz und schlammfarben. Laufen ist ein inniger, grandioser Roman nicht nur über Depression und Trauer, sondern auch über Akzeptanz und Lebendigkeit. In ihm sind Gedanken formuliert, wie sie viele denken, womöglich in der Annahme, sie seien die einzigen. Sie auszuschreiben und offen zu sein für das, was man sich zu denken oder fühlen verbietet, ist auch ein Schritt zur Milderung eines Schmerzes, der wohl immer da sein wird. Trauer ist ein individueller Prozess. Laufen zeigt diesen Prozess in vielen Facetten, so nah und intim, so ambivalent und menschlich, dass man sich dem kaum entziehen kann.