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Mario Keipert

Posted on 21.9.2019

Lacroix’ Expertise war es, die Seelen der Opfer und der Täter zu ergründen, so lange zu reden, zu wühlen, zu suchen, bis er ein Motiv fand, Wut, Habgier, Eifersucht, Hass. Diese vom Autor sehr bewusst eingesetzten Charakteristika treffen vielleicht auch auf Lacroix, mehr aber auf einen der ungleich größeren Kommissare der Kriminalliteratur zu, der, welch ein Zufall, sein Büro an derselben Stelle hatte, wie der in der Gegenwart ermittelnde Lacroix. Nicht umsonst wird dieser von den Parisern gern auch Maigret genannt. “Sie sehen”, so seine Ehefrau, wie du ermittelst, sehen deinen Ehrgeiz. Und deinen unbedingten Willen, zu verstehen, warum es Täter und Opfer gibt. Deinen Wunsch, die Seelen der Menschen zu durchdringen. Das gibt es nicht so oft. Vielleicht gibt es das in Paris gar nicht mehr. Lépic stellt uns also mit diesem Auftakt zu seiner Krimi-Serie den Wiedergänger eines schier übermächtigen Vorbildes – sowohl auf kriminalistischer als auch auf literarischer Ebene – vor; der für seine schweigsamen und intuitiven Ermittlungsmethoden bekannte Kommissar ist in Lacroix und die Toten vom Pont Neuf allgegenwärtig. Wenn “Paris’ neuer Maigret”, so die Presse, den “alten Serienmörder vom Pont Neuf” jagt, werden nicht nur ungelöste Fälle wieder aufgerollt, die geniale Fiktion wird endlich Fleisch, wird Wirklichkeit. Denn der Übervater, so suggeriert es der 2019 erschienene Roman, hatte einen Makel: Maigret war schließlich reine Erfindung. Jetzt aber, so die durchaus gewagte Behauptung von Lépic, gibt es jemanden, der die Genialität in die Wirklichkeit überführt. Er trank ein letztes Bier am Tresen des leeren Chez Paul und erhob sein Glas auf Commissaire Maigret, der immer genau hier in der allerdings fiktiven Brasserie Dauphine sein Bier getrunken hatte. Das Bier schmeckt in Realität sicherlich besser als in der Fiktion – doch ob der erste Fall des Kommisar Lacroix diesem hoch gehängten Anspruch gerecht wird? Das darf bezweifelt werden. Natürlich, “früher, als sein fiktiver Kollege Maigret noch ermittelt hatte”, so Lacroix im Roman, war vielleicht manches anders, weniger komplex – dafür jedoch von ganz allein romantauglicher? Jetzt muss ein Kriminalautor so einiges auffahren, um für Spannung zu sorgen und gleichzeitig für die Plausibilität seiner Geschichte zu bürgen – von Olympia bis zum Sondereinsatzkommando, von tschetschenischen Brüdern bis zu den Republikanern, als deren Vertreterin die Frau des Kommissars im Pariser Rathaus sitzt. (Warum eigentlich? Wird ja vielleicht in einem der folgenden Romane verraten.) Kurz: man hat es nicht gerade einfach im Zeitalter post Simenon. Den spannenden Ton, eine gelungene Konstruktion und durchaus amüsante Charaktere kann man dem Auftakt dieser Krimi-Serie nicht absprechen; vor der Folie der Romane Georges Simenons aber fällt die Gesprächigkeit des Romans dann doch negativ auf. Warum eigentlich müssen Kriminalromane neuerdings immer gleichzeitig wie Reiseführer für das Land ihrer Handlung werben? Warum werden Kulturgüter, kulinarische Genüsse, Gegenwartsphänomene breit getreten statt mit größter erzählerischer Ökonomie der Handlung zu folgen? Leider mischt sich in die Erzählung von Alex Lépic immer wieder der Kommentar, die Reflexion hinein – in Sachen Erzählkunst lässt sich auch ein halbes Jahrhundert nach ihm noch einiges von Simenon lernen.

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