FrauenLesen
Marie kommt aus sehr ärmlichen Verhältnissen mit viel Glück nach Wien. Da sie lesen kann, findet sie Arbeit als Kindermädchen im Haus des Dr. Arthur Schnitzler. Schon nach kurzer Zeit haben sich die Kinder an sie gewöhnt. Eines Tages soll sie ein Buch abholen und so stand sie das erste Mal in einer Buchhandlung. "Marie wurde rot, sie kam sich plötzlich schrecklich ungebildet vor. Unglaublich, dass es Menschen gab, für die es normal war, einfach so ein Buch zu bestellen." Da das Buch noch nicht eingetroffen war, bot der junge Verkäufer Oskar Novak an, das Buch am späten Nachmittag ins Haus zu liefern. Doch er brachte nicht nur das Buch für den Doktor, sondern auch eines für Marie: „Mir zur Feier. Rainer Maria Rilke“ stand drauf. Marie hat noch nie so ein wertvolles Geschenk erhalten. Wenn die Familie aus dem Haus war, schlich sich Marie in das Arbeitszimmer des Doktors. Sie besah sich die Bücher in den Regalen, las die Titel auf den Buchrücken und nahm hin und wieder verstohlen eines in die Hand, um es rasch wieder zurückzustellen. Weihnachten rückte immer näher. Die Kinder träumten von ihren Geschenken. Der Doktor litt unter einem schlimmer werdenden Ohrenleiden. Die gnädige Frau war ungeduldig und reizbar. Das Ehepaar stritt sich öfter. Was Marie gar nicht verstehen konnte. Warum war Olga Schnitzler oft so zänkisch? Andere wären froh, so ein Leben führen zu können. Oskar Novak dachte immer wieder an Marie. Bei ihrem ersten Treffen im Buchladen traf ihn fast der Schlag, sah sie doch der Schauspielerin Hedwig Kramer, die er so verehrte, sehr ähnlich. In den nächsten Tagen dachte er immer wieder an sie, und immer wenn die Ladentür klingelte, hoffte er, dass es Marie wäre. Als er es nicht mehr aushielt, schrieb er ihr einen kleinen Brief und bat um einen Spaziergang. Dieses Büchlein, erschienen im Verlag Kindler (unter dem Dach der Rowohlt Verlage), ist nicht nur eine Liebeserklärung an Bücher, sondern auch eine an die Stadt Wien. Und sie kommt ganz leise und einfach daher. Durch die einzelnen Protagonisten (Marie aus einer ganz armen Familie, Oskar aus dem Mittelstand und die Familie Schnitzler aus der gehobenen Klasse) erfahren wir einiges über die sozialen Strukturen des Wiens aus der Zeit um 1900. Man braucht für das Büchlein nur zwei, drei Stunden, aber diese Lesezeit habe ich genossen.