FrauenLesen
April 1949: Im noch nicht wieder aufgebauten Deutschland kommen auf einen Mann fünf Frauen. Auf Islands Bauernhöfen dagegen herrscht Frauenmangel. Die sind in die Städte gegangen, um sich bilden zu lassen. Und so findet eine Aktion statt, die Island die bisher größte Einwanderergruppe beschert. 300 Frauen melden sich, um in der Ferne ein neues Leben zu beginnen. Die meisten leben sich schnell ein, heiraten Isländer und gründen Familien. In diesem Buch erzählen die heute noch Lebenden fast alle zum ersten Mal ihre Lebensgeschichte. Eine der sechs Frauen aus diesem Buch möchte ich euch vorstellen: Los geht es mit Hilde, die am 29. März 1942 vierzehn Jahre alt und damit die jüngste Feuerwehrfrau von Lübeck ist. Der Vater ist gestorben, die Brüder im Krieg. Jeden Abend bei Bombenalarm mussten sie runter in den Keller. Hilde war ein ungestümes Mädchen, hatte kein Sitzfleisch, war leicht aufbrausend und musste immer in Bewegung sein. Ihren Bewegungsdrang bekam sie mit Sport einigermaßen in den Griff. Von ihren Leistungen her hätte Hilde gut das Abitur machen können, doch die Eltern wollten, dass sie einen Beruf erlernt und so musste sie den Beruf der Kaufmannsgehilfin lernen. Diese Arbeit war ihr sehr schnell verhasst. Auch nach Kriegsende blieb Hilde unter ständiger Anspannung. Heute würde man ihr wohl eine posttraumatische Belastungsstörung bescheinigen. Das Zusammenleben mit der Mutter war nicht einfach. Nach vielen Auseinandersetzungen machte sie sich mit auf den Weg nach Island. Sie zog von allen Frauen am weitesten in den Norden. Im Gegensatz zu vielen anderen Frauen hat Hildur, wie sie nun genannt wird, überhaupt kein Heimweh. Eigentlich wollte sie nur ein Jahr bleiben. Doch ihr geht es hier so gut. Ihre Nervosität ist von ihr abgefallen, die Familie hat sie gut aufgenommen und sie hat sich in Björn verliebt, einen der Zwillingsbrüder des Hofes. 1951 heiraten die beiden und werden 51 Jahre miteinander verbringen. Hilde verliebte sich in die Gegend, von der selbst Isländer sagen: "Was will die da? Da ist doch nichts, das ist doch das Ende der Insel und nur noch ein alter Leuchtturm, dann sehr viel Packeis im Winter und dann kommt Grönland." Hildur und Björn hatten ein arbeitsreiches und glückliches Leben. 1999 bauten sie ihr Haus noch einmal um. Als wenn Björn ahnte, dass er drei Jahre später mit 89 Jahren sterben würde und seiner Frau ein komfortableres Leben schenken wollte. Später probiert Hildur ein isländisches Projekt aus, das viele Seniorinnen und Senioren praktizieren. Über den Winter geht sie in die nächste Kleinstadt in ein "Winter-Seniorenheim". Zu Hause wäre es in dieser Jahreszeit einfach zu gefährlich. Wenn etwas passieren sollte, lägen die Höfe für schnelle Hilfe zu weit auseinander. Auch die Ambulanz könnte unter Umständen zu lange brauche, um rechtzeitig Hilfe leisten zu können. "Isländische Alten- und Seniorenheime sprengen die Klischees dessen, was wir Mitteleuropäer kennen. Sie sind farbenfroh ausgestattet und voller Leben. Die Personalausstattung ist gut. Es wird gern gelacht, hier ist noch viel in Bewegung. Damit sind nicht nur die Sport- oder Strickgruppen oder die Ergotherapien und Literaturzirkel der Häuser gemeint. Traditionell verfügen sie über Schwimmbäder und Bottiche mit heißem Wasser, in denen man sich ausruht. Das ist Tradition und viele nutzen das täglich." Hildur hat diesen Schritt nie bereut und bis zum Zeitpunkt, als sie ihre Geschichte erzählte, würde sie alles wieder so machen. Ein sehr interessantes Buch. Bis vor Kurzem wusste ich von dieser Auswanderungswelle nichts. Und das Thema ist ja brandaktuell, wenn ich so an die "Wirtschaftsflüchtlinge"-Schreier denke. Denn um nichts anderes ging es bei den Frauen, die damals nach Island gingen, die hier in Deutschland für sich keine Perspektiven für die Zukunft sahen. Denn Kriegsflüchtlinge sind sie 1949 ja nicht mehr gewesen. Von was wir uns eine Scheibe abschneiden könnten: In Island leben die Alten, auch in diesen Seniorenheimen, mitten in der Gesellschaft. Die isländischen jungen Leute haben den Ernst der Lage erfasst, dass die heutigen ganz Alten wirklich die letzten sind, die noch von Kriegszeiten berichten können.