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drwarthrop

Posted on 23.8.2019

Was ist eigentlich ein Indianer? Wir alle kennen die unterdrückende und mordende Geschichte des Landes, doch was macht diese jahrhunderte währende Oppression mit den Menschen? Mit ihrem Glauben, ihrer Kultur, ihrem Erbe? Tommy Orange geht diesem literarisch weitestgehend unbekannten Terrain durch die Perspektiven von insgesamt einem Dutzend Personen nach und zeichnet dabei ein bitteres und trauriges Bild der aktuellen Situation. Darunter zum Beispiel Tony, der (der Alkoholsucht seiner Mutter geschuldet) ein fetales Alkoholsyndrom hat, dass er nur 'das Drom' nennt und seine gesamte äußerliche Persönlichkeit davon abhängig macht. Oder Dene, der das Erbe seines an Krebs verstorbenen Onkels weitertragen möchte, in dem er verschiedene <i>Natives</i> nach ihren Lebensgeschichten befragt, diese aufnimmt und damit seine Passion gefunden hat. Im Gegensatz zu Edward, der nach seinem erfolgreichen Abschluss in Literaturwissenschaft den Faden zur Realität verloren hat und sich nun in den tiefen Gefilden des Internets zu verlieren droht. Eines haben aber alle gemeinsam: ein anstehendes Powwow, dass alle Protagonisten schlussendlich fulminant zusammenführt. In gelassen melancholischer Diktion vermag es der Autor die brutale, erniedrigende Präsenz aktuell herrschender Traumatas der Ureinwohner generationsübergreifend wiederzugeben und durch persönliche Schicksale zu manifestieren. Fast geisterhaft legen sich bekannte historischen Verbrechen wie ein Schleier undurchdringbarer, systematischer Ablehnung, ohne dass diese jemals hinterfragt oder bereut werden. Der Roman spiegelt in abgrundtiefer Ehrlichkeit den schweren Kampf um kulturelle Anerkennung und Entfaltung in einer Gesellschaft wieder, die ignorant auf dem blutigen Boden ihrer eigenen Geschichte wandelt. Die peotische Manifestation des alltäglichen, die der Autor des öfteren einfließen lässt unterstreicht einen schon fast rebellischen Unterton, der die Individualität des Augenblicks und des eigenen Schicksals einmalig ergreifend einfängt. Ambivalente Aktionen der Protagonisten fördern über den Verlauf der Narrative ein kognitives Schattenspiel persönlicher Zweifel zu Tage, das in seiner finalen Aussage einträglich absolut, zynisch und trotzdem verdammt ehrlich wirkt. Dabei setzt Orange nicht auf Exposition, sondern entfaltet in der Sublimen eine über alle Maßen hinaus faszinierende Fulminanz demoralisierender Persönlichkeitsentwicklung und ihrer eskalativen Folgen. Trotz der vielen handelnden Personen schafft es der Autor durch passend gesetzte Perspektivechsel diesen Leben einzuhauchen, sowie durch Retrospektiven und kleine Sujets abzurunden. Die zu Anfang noch eher durch kleine Dramen aufgefrischte Narrative entfaltet crescendoartig im Lauf der Geschichte eine deutlich stärkere Präsenz, um schlussendlich in tragischer Eskalation zu explodieren. Alleine dafür lohnt sich das Lesen schon! Was Tommy Orange in seinem Debüt zaubert gelingt vielen Autoren ihr gesamtes Leben nicht: ein Werk zu schaffen, dass von Dauer sein wird. Peotische, etwas bittere Diktion gemischt mit schrägen, aber liebenswerten Charakteren und einer tragisch-eskalativen Geschichte. Abgerundet durch ein Feuerwerk der Emotionen, die beispiellose Manifestation jahrhunderte währender Unterdrückung im Angesicht des Wandels und dem kämpferischen Geist, der dem entgegensteht. Absolute, unbedingte, sofortige Empfehlung!

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