Profilbild von drwarthrop

drwarthrop

Posted on 6.8.2019

Stuntshows, Boxkämpfe oder sogar die dümmste Erfindung von allen: NASCAR-Rennen. Kein amerikanisches Event darf ohne eine geladene Portion Patriotismus daherkommen, inklusive schwenkender Fahnen, Südstaatenflaggen und dauerhaften "USA! USA! USA!"-Skandierungen. So auch in der Kleinstadt Bashford, die abseits der "Flat-White-mit-Sojamilch"-Kaffees, den coolen Kids mit ihre Schmartphones & den aktuellen Genderdebatten, im Herzen der USA liegt und in der Freizeitgestaltung meistens nur eine Frage des Pegels ist. Arbeitslosigkeit, fehlende soziale Auffangnetze und ein verbissen geführter Erfüllungsdrang runden dieses pittoreske White-Trash-Bild perfekt ab. Gewinner dieses modernen Feudalismus ist die Mapother Familie, deren Tabakkonzern fast die Hälfte aller Arbeitsplätze der Region stellt. Skynet & Lugenkrebs approved. Und da es als privilegierter Konzernerbe schnell langweilig wird (nachdem die ersten 20 Jahre eine Eskapade auf die nächste folgte) kandidiert John Mapother, im Auftrag seiner streng-gläubigen Mutter für den Kongress, um (surprise, surprise) in nachfolgenden Wahlen zum Präsidenten aufzusteigen. Ein Mapother gibts sich halt nicht mit Peanuts ab! Gegenpol dazu bildet Blue Gene, der als Aussteiger und schwarzes Schaf der Familie ein Leben voller prätentiöser Gespräche, teurer Autos und maßgeschneiderter Anzügen gegen ein Leben voller Trailerparks, Monstertruck-Shows und Rednecks mit Schrotflinte eingetauscht hat. Und ist damit vollkommen glücklich. Bis eines Tages seine Mutter unangekündigt vorbeikommt und Blue Gene bittet im Wahlkampf seines Bruders auszuhelfen. Gekonnt meisterhaft zeichnet Goebel mit feiner, emotionaler Präsenz, ein ambivalentes Bild sozialer Eigenheiten der heutigen, amerikanischen Gesellschaft. Gerade die durch den Wahlkampf in Fokus gestellten Themen finden sich in aktuellen Debatten wieder und werden, (anders als im Roman vom Autor ironisch geschildert) mit lakonischer, bitterer und hasserfüllter Diktion geführt, ohne auch nur den Hauch von Würde erkennen zu lassen. Wahlkampf als Big-Brother mit Politikern. Homophobe, rassistische oder neo-liberale Inhalte werden durch Schlagworte, wie "Familienwerte" oder "lokale Wirtschaft" in der Metaebene verankert...same as usual. Trotz oder gerade auf Grund der non-konformen Einstellungen und ausgeschmückten Vorgeschichten zahlreicher Charaktere erschafft der Autor eine realistische Nähe, die den sozial wunden Punkt erschreckend genau trifft. Abwechselnd treffen dabei die sozialen Missstände, Ängste und Hoffnungen der unteren Gesellschaftsschicht auf die überprivilegierten Verhältnisse, "Sorgen" und Hohe-Ross-Attitüden der oberen Gesellschaftsschicht, was in der Praxis eine wunderbar explosive Mischung erzeugt und den Leser so aktiv mit einbindet. Dabei driftet die Narrative über die Zeit immer weiter von den oberflächlichen Wahlkampfthemen weg, hin zu einer fast märchenhaften, moralischen Charakterentwicklung, die eine Reihe einschneidender Ereignisse nach sich zieht. Dadurch geht ein wenig der bittere Realismus verloren. Dieser wird aber durch einfühlsame, wünschenswerte Entwicklungen ersetzt, die in ihrer Häufigkeit und Wirkung einen fiesen, ironischen Unterton erhalten. "Heartland" ist ein unglaublich faszinierendes, fesselndes Werk, das seinen Fokus stark auf die emotionale Ebene legt, diese dafür aber auch mit Bravur zu bespielen weiß. Verschiedene, unterschiedliche Gesellschaftsschichten werden in ambivalenter Manier vom Autor eingefangen und farbenfroh wiedergespiegelt. Dabei entwickelt sich eine herzerreißende Geschichte über die Fragen der eigenen Verantwortungen und Aufgaben in der Gesellschaft, sowie eine dramatische Familiengeschichte mit einer ordentlichen Portion Leichen im Keller.

zurück nach oben