DasIgno
Tara, 42, Dokumentarfilmerin und alleinerziehende Mutter, hat ihr Leben abseits traditioneller Rollenbilder soweit im Griff. Nur ein Partner wäre noch nett. Als sie den Richtigen kennen lernt, wacht sie plötzlich als Spottfigur der Nation auf. Doch dann tritt die taffe Lifestylebloggerin Cam, die einen ganz anderen Lebensstil verkörpert, in ihr Leben. Währenddessen wünscht sich Stella, der ihr Leben seit dem Krebstod ihrer Mutter und ihrer Zwillingsschwester rasant entgleitet, nichts sehnlicher als ein Kind und geht dabei verzweifelte Wege. ›Cows‹ erschien 2019 bei FISCHER. Dawn O’Porters Gesellschaftsroman umfasst 464 Seiten und wird als Taschenbuch mit Klappenbroschur geliefert. Dawn O’Porter erzählt in ›Cows‹ die Geschichten dreier ganz unterschiedlicher, teilweise scheinbar krass gegensätzlicher Frauen, die allesamt nicht das klassische Rollenbild verkörpern. Tara ist alleinerziehende Mutter und voll im Berufsleben. Ihre Tochter Annie hat sie durch einen One-Night-Stand bekommen, dem Vater hat sie nie von ihr erzählt, um ihn nicht unter Zugzwang zu setzen. Im Job ist sie von Sexisten umgeben, die Mütter von Annies Mitschülern vermitteln ihr, dass sie nichts Gutes von ihrer Doppelrolle halten. Auch wenn Tara Mutterschaft und Arbeit aufopferungsvoll meistert, erntet sie Ablehnung von allen Seiten. Als ihr Leben dann aus den Fugen gerät, halten im Prinzip nur noch ihre Mutter und Annie zu ihr. Cam ist 36 und feministische Lifestylebloggerin der ersten Stunde. Sie lebt ihr Leben, wie es sie glücklich macht, was bedeutet, kein Kinderwunsch, keine Liebesbeziehung und, abgesehen von ihrem Onlineleben, relativ alleine. Ihre Mutter versteht sie nicht, denn sie ist die einzige von vier Schwestern, die keine Familie gründen will. Mit ihrem Blog versucht sie, Frauen zu bestärken, aus klassischen Rollenbildern auszubrechen und sich zu nehmen, was sie wollen. Stella, die Jüngste in der Runde, ist 23 und Persönliche Assistentin. Sie trägt das Brustkrebsgen, genau wie ihre Mutter und ihre Zwillingsschwester, die beide an Krebs verstorben sind. Seit dem Tod ihrer Schwester ist ihr Leben völlig aus der Bahn. Sie lebt in einer Beziehung, die sich im Auflösungsstadium befindet, kann ihre Schwester nicht los lassen und ist sozial relativ isoliert. Und sie ist fest davon überzeugt, dass ein Kind den Sinn ihres Lebens retten würde, allerdings kommt für sie nur eine natürliche Schwangerschaft in Frage. Durch das Brustkrebsgen rinnt ihr dafür die Zeit durch die Finger. Die Handlungsstränge der drei Frauen erzählt Dawn O’Porter im Fall von Tara und Stella aus der Ego-Perspektive, in Cams als allwissende Erzählerin. In allen drei Fällen füllt sie die Figuren aber mit viel Tiefe. Taras und Cams Hinter- und Beweggründe kommen für mich absolut nachvollziehbar rüber, für Stella ist das in meinen Augen im Vergleich nicht ganz so gut gelungen. Ihre Geschichte entwickelt eine Eigendynamik, die sie meines Erachtens nicht hätte entwickeln müssen. Aber das ist ok, möglicherweise biegt sie einfach nur ein paar Mal falsch ab. »Folge nicht der Herde« ist zweifellos die rote Linie des Buches. Neben den feministischen Positionen, die Dawn O’Porter am explizitesten durch Cam und ihr Blog propagiert und mit denen sie sich ›gegen die Herde‹ stellt, tritt sie auch deutlich im Durchspielen des sozialen und medialen Shitstorms gegen Tara zutage. Den spielt sie tatsächlich sehr realistisch durch, bis hin zu Taras Interview, von dem sie berufsbedingt eigentlich genau weiß, dass es das Schlimmste ist, worauf sie sich einlassen kann. Doch die Verzweiflung schlägt ihre Expertise und der Boulevard nimmt das freudig auf. ›Cows‹ demonstriert auf eindrückliche Weise, wie tiefgreifend Gesellschaft und Medien einen Menschen aus Sensationsgier und Heuchelei zerstören kann. Das tut über weite Strecken auch beim Lesen sehr weh. ›Cows‹ demonstriert aber auch, wie sich Menschen (in dem Fall Frauen), so unterschiedlich und gegensätzlich sie auch sind, gemeinsam aus dem Abgrund ziehen können. Dass es lohnt, für sich und andere einzustehen. Dass Individuen eben Individuen sind und ihren eigenen Weg gehen dürfen. Und dass die Individualität akzeptiert werden muss, jedenfalls solange sie anderen nicht schadet. Lustigerweise bin ich, während ich die Rezension vorbereitet habe, auf einige negative Rezensionen gestoßen, die sich im Prinzip alle offen darauf stützen, dass die Verfasser*innen sich nicht mit den Hauptfiguren identifizieren konnten, weil sie ihr Verhalten abstoßend fanden. Besonders im Hinblick auf Cam wurde da quasi genau das vorgeworfen, dem sie sich auch im Buch entgegen stellt. Das hat für mich schon eine gewisse Ironie und zeigt, wie nötig Geschichten dieser Art immer noch sind. ›Cows‹ ist ein tolles, ein starkes Buch. Es kann sensibilisieren und es kann Mut machen. Und das weit über die offenbare Zielgruppe – dem habe ich ja schon einen eigenen Blogpost gewidmet – hinaus. Schade, dass es genderadvertised wird. Manch einem Mann könnte es durchaus auch den Horizont erweitern.