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DasIgno

Posted on 6.6.2019

Brinkebüll in Schleswig-Holstein unweit der Dänischen Grenze. Ein Tante-Emma-Laden, die Dorfschule, die Kirche, zahlreiche kleine Bauernhöfe und ein Wirtshaus – der inoffizielle Mittelpunkt des Dorflebens. Bis 1965 ein typisches ländliches Idyll, wie es an so vielen Orten gefunden werden konnte. Der Krieg war vorbei, das Leben ging weiter und grenzte genau am Ortsschild. Dann kam mit dem Fortschritt die Flurbereinigung und dem Dorfleben, wie man es gewohnt war, ging es an den Kragen. Sönke und Ella Feddersen und auch ihr »Sohn« Ingwer – eigentlich der Sohn ihrer Tochter Marrit, doch die lebte so sehr in ihrer eigenen Welt, dass die Eltern das Kind übernahmen – haben die Zeit davor und danach erlebt. Während die Eltern den Gasthof stur weiter betrieben, weil sie sich gar nichts anderes vorstellen können, hat es Ingwer nach dem Abitur nach Kiel an die Universität gezogen. Doch ganz loslassen konnte er Brinkebüll nie – das wird ihm nun, im Alter von 48 Jahren, sehr klar. Der Gesellschaftsroman ›Mittagsstunde‹ von Dörte Hansen erschien 2018 bei Penguin, einem Teil der Verlagsgruppe Random House. Das Buch umfasst 320 Seiten und erzählt den Wandel, den das kleine Dorf in den Jahrzehnten seit dem Zweiten Weltkrieg erlebt hat. Ein Buch aufschlagen und schon nach den ersten Seiten denken, dass man das doch alles kennt, das ist eigentlich das Beste, was einem Buch passieren kann. Mit ›Mittagsstunde‹ ging es mir ziemlich schnell so. Ich komme vom Dorf – zwar vom südhessischen und einer wesentlich späteren Zeit entsprungen, aber man kriegt ja doch alles noch nachgeliefert – und habe da wirklich viel wiedererkannt. Das Leben im Dorf hat sich in den letzten 70 Jahren zweifellos stark verändert, hier früher, dort später. Erst hat es viel von seiner Romantik verloren, nun wird genau die wieder zu simulieren versucht. Auf der Strecke sind dabei die geblieben, die sich mit den Veränderungen nicht arrangieren konnten. Dörte Hansen nimmt das in einer faszinierenden Weise auf – weder anklagend noch allzu wehleidig. Sie nutzt dafür im Prinzip jede einzelne Figur auf eine ihr eigene Weise. Ella und Sönke Feddersen beispielsweise als das personifizierte Zentrum des Dorfes – Sönke etwas mehr als Ella – die sich mit den Umbrüchen nicht arrangieren konnten, sich dank der dörflichen Dynamik und ihres Gasthofes aber irgendwie noch bis zum Tod durchschlagen können. Dorflehrer Steensen, der sein Ding einfach bis zum Ende durchzieht, weil er von höheren Stellen sowieso nicht beachtet wird. Pastor Ahlers, der die religiöse Praxis mehr oder weniger freiwillig den dörflichen Gegebenheiten angepasst hat. Eine ganze Reihe Bauern, die mit ähnlichen Voraussetzungen beginnen, nach der Flurbereinigung aber ganz unterschiedliche Wege gehen. Und dann ist da Ingwer Feddersen, Hansens Hauptfigur. Einst Dorfkind mit zweifelhafter Herkunft – seine Mutter Marret lebt in ihrer eigenen Welt, der Vater ist unbekannt, war wohl einer der Landvermesser – tief verwurzelt durch der (Groß-)Eltern Erbe. Doch er ist einer der wenigen, die die Fähigkeiten haben, aus dem Dorfleben zu entkommen. Also überwirft er sich nach der Schule ein wenig mit den Zieh-Eltern, schlägt das Erbe aus und strebt eine universitäre Karriere in Kiel an. Lebt dort in einer Dreier-WG – zwei Männer, eine Frau – mit etwas verschwommenem Beziehungsgeflecht und kommt in seinem Leben nie richtig an. Mit 47 Jahren stellt er fest, dass ihm irgendwas fehlt. Keine Familie, rastlos, das ganze Leben irgendwie in der Schwebe. Just in dem Moment werden die Sönke und Ella langsam – sie sind nun knapp vor der 100 – zu alt fürs Familiengeschäft, Ingwer nimmt sich ein Sabbatical, will die beiden unterstützen, alles wohl mit dem Gedanken im Hinterkopf, nach dem Jahr hätte die Natur die Dinge in Brinkebüll abschließend geregelt. Doch es kommt anders, denn er entdeckt, was ihm gefehlt hat. Brinkebüll hat ihn nie wirklich losgelassen. Im Dorf alleine kann er zwar nicht, aber ganz verlassen kann er es auch nicht. Er bemerkt zunehmend, dass er diesen Zwiespalt akzeptieren muss, auch seine Vergangenheit – er ist nun mal ein Kind vom Dorf, das lässt sich nicht ablegen – schlussendlich macht er seinen Frieden mit Brinkebüll. Um diese ganze persönliche Geschichte herum erzählt Dörte Hansen den Werdegang des fiktiven Dorfes seit der Nachkriegszeit. Man erfährt eindrücklich, wie sich das Dorfleben verändert hat und welche persönlichen Schicksale sich damit ergaben. Was Juli Zeh in ›Unterleuten‹ mit einem fiktiven Dorf nach dem Fall der Mauer getan hat, macht Hansen im großen Stil für ein westdeutsches Dorf. Dabei spielt sie im Vergleich aber die leiseren Töne, was dem Roman nicht schlecht tut. Die Ereignisse sind zwar in der Rückschau einschneidend, es sind aber häufig nicht so plötzliche. Ihre Auswirkungen sind trotzdem sehr ähnlich. Dabei klagt Hansen nicht an, ergibt sich nicht der Wehleidigkeit. Der Roman ist melancholisch, dabei berichtet er aber mehr, als dass er die Melancholie zu seinem Mittel macht. Das macht ihn sachlicher. Er klagt nicht an, er erzählt Schicksale und das macht er wirklich gut. Jetzt klingt das alles nach purer Begeisterung und ich hätte die auch bestens bewertet. Leider muss ich aber einen Stern abziehen, was möglicherweise kleinkariert und überzogen anmuten mag. Hansen benutzt – wenigstens nur zwei Mal, aber sie tut es halt – mittlerweile geächtete Begriffe und das leider vollkommen ohne Not. Es findet sich ein »N*kuss« und ein »Küchenbimbo«, beides an Stellen, an denen es dem Roman kein bisschen geschadet hätte, hätte sie unproblematische Synonyme benutzt. Das kann ich heute leider überhaupt nicht mehr nachvollziehen, es ist einfach überflüssig und verdirbt mir das Leseerlebnis. In einem Roman von 2018 für mich ein No-Go und ich frage mich ernsthaft, wie das im Lektorat nicht auffallen bzw. wegbegründet werden konnte. Nun ja, dafür halt ein Stern weniger. Ansonsten ist ›Mittagsstunde‹ ein tolles Buch. Wem ›Unterleuten‹ von Juli Zeh gefiel, der wird auch hier Freude haben. Hansen zeichnet einen schlüssigen historischen Abriss über die Veränderungen, die das Landleben seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges erlebt hat. Melancholische Gefühle sind da wohl nicht nur für Dorfkinder garantiert.

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