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gwyn

Posted on 2.6.2019

Der erste Satz: »Sie verbrachten die Nacht auf Freitag im Haus in Prenzlin, fuhren am späten Vormittag weiter, gegen den Widerstand der Kinder, die das Haus liebten und Dänemark blöd fanden.« Oliver Bottini ist für mich der beste Thriller- und Krimi-Schriftsteller aus Deutschland und auch mit diesem Krimi hat er mich wieder voll überzeugt. Er schreibt nicht schlicht eine Geschichte - hinter jedem Buch steckt ein gewaltiges gesellschaftliches Problem, meist eins, das man vorher gar nicht so wahrgenommen hatte. In diesem Krimi geht es um Landgrabbing – der Aufkauf von Ackern durch Agrargesellschaften. Ergebnis: Ausbeutung der Erde, Zerstörung der Natur, Arbeitslosigkeit, Landflucht. »Zwei- dreihundert Meter vor ihnen schob sich eine haushohe sandfarbene Wolke über die Autobahn, und Winter dachte, dass es am besten wäre stehenzubleiben, aber das ging ja nicht, auf der Autobahn stehenbleiben. Dann waren sie schon mittendrin, waren von wirbelndem Sand umgeben, die Scheiben bedeckt vom Sand, er sah nicht einmal mehr das vordere Ende des Wagens, nur rote Lichter, denen sie sich rasend schnell näherten.« 2011 Mecklenburg-Vorpommern: A19 – plötzlich zieht ein Sandsturm über den Feldern auf, die Fahrer in den Autos sind machtlos, blind – Massenkarambolage. (Einen solchen Unfall hat es dort real gegeben.) Michael Winter überlebt, aber er verliert seine zwei Kinder, seine Frau. Für ihn gibt es nichts mehr, dass ihn hält und so zieht er nach Rumänien, wo sein Jugendfreund, Jörg Marthen, ihm die Betriebsleitung seines Landwirtschaftskonzerns anbietet. »Er sah und hörte nun Gefühle und Zwischentöne, wo die 'Jungen' nur Bewegungen sahen und Wörter hörten. Sie hatten es nicht so mit Gefühlen. Mit Logik und Fakten, ja, aber Gefühle entgingen ihnen oft. Gefühle ließen sich nicht in Nullen und Einsen übertragen, waren zu schwammig für Excel-Dateien, waren da, ohne da zu sein. Sie standen dem raschen Erfolg im Weg, weil man alles vier- oder fünfmal sagen und hören und hinterfragen musste. In den Budgetvorgaben und time schedules moderner rumänischer Polizeiarbeit war kein Raum für Gefühle und Zwischentöne; in diesem Büro dagegen schon.« 2014, Rumänien, Temeswar: Ausgerechnet Ioan Cozma, der ehemalige Mordermittler, der sich bis zur baldigen Rente nur noch mit unbedeutendem Kleinkram beschäftigen soll, erhält noch einmal die Ermittlungsleitung in einem brutalen Mordfall, das höchstpersönlich von Serviciul Criminalistica, Paul Bejenaru. Cozma passt das gar nicht. Zumindest darf er seinen Freund Cippo Ruso ins Team holen. Er ist misstrauisch, noch mehr, als sich Valentina Olar der Antikorruptionsbehörde DNA sich einmischt. Die deutsche Studentin Lisa Marthen wurde erstochen, man vermutet eine Beziehungstat. Der Verdacht fällt sofort auf einen flüchtigen jungen Mann, der sich als Landwirtschaftshelfer bei Lisas Vater verdingt. Marthen, aus Prenzlin stammend, hatte Stück für Stück Landflächen von Bauern aufgekauft, in der Kornkammer Rumäniens einen landwirtschaftlichen Großbetrieb gegründet. Aber auch andere Leute sind an den Äckern interessiert, ebenso an denen von Marten: Araber, Chinesen, Holländer … Cozma und Cippo ermitteln. Der junge Rumäne scheint nach Prenzlin geflohen zu sein. War er wirklich der Mörder des Mädchens? Jeder Protagonist hat eine interessante Vergangenheit, fein in das Handeln eingearbeitet. Cozma ist der Sohn eines jüdischen NS-Opfers, und hatte in antifaschistischer Wut in seiner Position als Polizist gegen die Handlanger von Ceausescu die Hand erhoben, in einigen Fällen gefoltert, eines seiner Opfer kam zu Tode. Nach der Aufklärung der Verbrechen unter Ceausescu sucht man heute wiederum nach Spuren der Verbrechen unter der kommunistischen Regierung - immer eine Veränderung der Machtverhältnisse. Antikorruptionsermittler sind unterwegs, denn manche Dinge ändern sich nie: in Rumänien läuft nichts ohne Bakschisch. Bisher ist Cozma nicht aufgeflogen. Und so soll es auch bleiben. »Eine Geschichte von Gier, Wut und Panik.« In dieser Geschichte wird es nicht bei einer Toten bleiben, ein Killer ist unterwegs. Auch hinter ihm sitzt eine bewegende Geschichte: verlassen von der Mutter, aufgezogen in grausamen Kinderheimen, von der Securitate ausgebildet zum Meuchelmörder. Rumänien gehört den Rumänen aber die Ackerflächen sind heute in der Hand von mächtigen Agrarfirmen, die auf Großflächen mit Monokultur den Boden auslaugen, die Landschaft zerstören (Ackerflächen von der Größe Portugals wurden an Investoren verhökert). Landgrabbing nennt man das. Der Krimi führt uns auch nach Mecklenburg Vorpommern. Und auch hier ist Ähnliches passiert. Globalisierung im Turbokapitalismus, eine Entwicklung die Landschaften zerstört, Menschen die Lebensgrundlage entzieht. Landgrabbing, klar, kennt man aus Afrika, Südamerika – auch in Europa – letzteres war mir nicht so bewusst. Nach der Wende ging es in der DDR nicht zu, wie man es geplant hatte. Eigendlich war es vorgesehen, dass die LPG’s ihre Ländereien aufteilen, kleine Bauerneinheiten sollten entstehen. Firmen kamen, ihre Anwälte rechnete den Wert der Grundstücke herunter, Traktoren, Maschinen, Gebäude vergaß man schlicht einzuberechnen. Die Bauern ließen sich auszahlen, mit ein paar Mark wurden sie über den Tisch gezogen, LPG-Leiter rieben sich die Hände, gründeten Gesellschaften, die sie gewinnbringend an Firmen verkauften, unter der Hand absahnten. Viele dieser Verträge waren formaljuristisch gar nicht gültig, aber die Ostbauern hatten keine Lobby in Berlin hinter sich. Und auch hierum geht es in diesem Roman. Das Ergebnis ist in beiden Ländern gleich. Schützende Hecken und Wäldchen wurden entfernt, der Lebensraum vieler Tiere zerstört, Wind fegt die Krume von riesigen Flächen, Sandstürme entstehen. Der Boden wird ausgelaugt, schon wegen Monokultur, Dünger wird ausgefahren, Naturräume werden vernichtet. Ganze Dörfer werden in ihrer Sozialisation brüchig. Auch Marthen ist bei der Rückabwicklung der LPG wie auch die anderen Bauern 1989 übers Ohr gehauen worden, drum versucht der Landwirt aus Leidenschaft, seinen Traum in Rumänien zu erfüllen. Oliver Bottini hat hier eine spannende Geschichte offengelegt, ähnliche Strukturen im Landgrabbing: Bauern, die über den Tisch gezogen wurden, Immobilienhaie, die Millionen verdienen, Konzerne, die nur profitorientiert handeln – und das nicht in fernen Kontinenten, wie wir es vermuten. Historisches wird eingebunden, denn Menschen sind das Produkt ihrer eigenen Geschichte. Perfekt die Figurenaufstellung und Aufblätterung der Charaktere, und sprachlich wie immer auf den Punkt gebracht, vergisst man fast den Krimi. Der dient hier letztendlich als Szenario für ein wichtiges Phänomen. Bottini schafft Stimmung durch Atmosphäre und Dialoge, es brodelt, die Anspannung ist spürbar. Er blickt tief hinein in die Menschen, zeigt keine Monster, sondern Lebensläufe, Gefühle, Gesellschaftsstrukturen, die Ohnmacht von Menschen – und er schafft dies mit schnörkelloser Sprache – präzise. Die Figuren sprechen selbst, mit allen ihren Widersprüchen. Oliver Bottinis Bücher sind politisch und gesellschaftskritisch, immer intensiv recherchiert. Für mich das Beste, was deutscher Krimi zu bieten hat. Oliver Bottini wurde 1965 geboren. Für seine Romane erhielt er zahlreiche Preise, u. a. den Krimipreis von Radio Bremen, den Berliner »Krimifuchs«, den Stuttgarter Krimipreis und fünfmal den Deutschen Krimi Preis, zuletzt 2018 für diesen Roman: »Der Tod in den stillen Winkeln des Lebens«.

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