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gwyn

Posted on 30.5.2019

Der erste Satz: »Als sie hörten, dass eine junge Frau zu Tode gekommen war, kündigten sie sich zu Dutzenden an.« Eine zweiundzwanzigjährige Frau geht ins Wasser, sie trägt den schweren Mantel des Bruders, die Taschen mit Steinen gefüllt. Sie springt in den Strudel, der bekanntlich alles hineinzieht und irgendwann wieder ausspuckt – oder auch nicht. Tage später wird sie aufgefunden, eine aufgeblähte Leiche, die fette Barbara, die große Barbara, die schlaue Barbara, die ganz allein einen Raum einnehmen konnte, einen halben Tisch besetzen konnte, nur durch ihre Anwesenheit. Das Mädchen, dass die Prügel für den Bruder einstecken musste, nie anerkannt vom Vater, beste Zensuren, Gymnasium verwehrt, der Bruder darf, aber versaut den Abschluss. »An den Waden gepackt und kopfüber wie ein Sack Kartoffeln ausgeschüttelt zu werden, gehörte zur Kindheit wie das Verlieren der Milchzähne.« Dieses Dorf hat nichts freundliches, man trifft auf ruppige Menschen in rauer Natur. Aber man hat Anstand, man grüßt sich höflich, auch wenn man sich gerade vorher die Nase gebrochen hat oder hinter seinem Rücken redet. Yann ist mit seinen Eltern aus der Stadt zugezogen. Raus aus der dunklen kleinen Wohnung in ein Haus auf dem Land. Aber gleich in der Schule wird klar, hier läuft alles anders, denn die Leute sprechen einen nicht verständlichen Dialekt, die Kinder sammeln sich nach der Schule in Grüppchen. Es wird gekämpft und gehauen, die Großen nehmen die Kleinen aus. Aber Yann, das Einzelkind, gehört zu niemandem hinzu. Der Zugezogene, der nicht hierher passt, ein neues Opfer. »Scham kannten diese Kinder nicht. ... Manche waren nackt, manche bekleidet. Jungen und Mädchen. Die Schönen und die Einfachen. Klein und groß und alles dazwischen. Mittendrin einer auf Toilette. Geschrei, wenn es zu stinken begann. Kein ruhiger Zentimeter. Keiner gehörte sich nur allein.« Das Dorf ist kinderreich, manch einer muss mit 3-4 Geschwistern in einem Zimmer schlafen, einige Familien haben mehr als fünf Kinder. In diesem Roman geht es um eine Gruppe von sechs Kindern. Mit dem Tod von Barbara kommt in ihnen die alte Geschichte wieder hoch. Das ist der zweite Erzählstrang. Auch Barbara trägt eine Mitschuld. Barbaras Bruder Adam, Nora und Yann berichten aus ihrer Perspektive. Die Berichte überschneiden sich teilweise, was dem Leser einen weiteren Einblick gewährt. Eigentlich drei Perspektiven. Aber wer ist die Vierte, Kapitel, über denen der Name fehlt? Das ist interessant gelöst. »Im Winter vor elf Jahren hätten wir ihn beinahe getötet. Wir wollten ihm eine Lektion erteilen. Wir hatten nicht mit uns selbst gerechnet.« Yael Inokai muss intensiv an ihrem Text gearbeitet haben, reduziert, fast skelettiert gibt sie Einsichten in die Dorfwelt. Es wird nichts wirklich ausgesprochen, aber der Leser liest zwischen den Zeilen, spürt unheilschwanger das Unglück, das noch kommen wird. Barbara ist Opfer und Täter zugleich. Sie trägt eine Mitschuld und andere tragen Schuld an ihrem Tod. Barabara arbeitet nach der Schule in Baufirma des Vaters, ideenreich, verbissen, genial, erkämpft sich den Platz am Fenster. Sie ist es, die das Konstrukt zu den Terrassenhäusern entwirft, niemand außer ihr hätte das geschafft. Die Namen der aller Konstrukteure stehen am Ende auf Schildchen am fertigen Projekt. Nur der von Barbara fehlt. »Ich habe mich oft gefragt, wie man eintausend Tage in einem Dorf verbringen kann, ohne einander zu begegnen, aber meine Mutter sagte mir einmal, dass man sogar ein ganzes Leben zusammen sein kann, ohne sich gegenseitig zu sehen und wahrzunehmen.« Eine ausgefeilte Sprache, der sich Yael Inokai bedienst. Klar und prägnant, mit einem Subtext, der alles ausspricht, was nicht geschrieben steht. Hier sitzt jedes Wort an der richtigen Stelle und es gibt kein Wort zu viel. Adam hat eine Wut auf Yann, der Leser spürt, was Yann in ihm auslöst – etwas, das nicht sein darf. Jede Erzählstimme besitzt einen eigenen Klang, an der sie wiederzuerkennen ist. Jeder Charakter steht für sich. Eine feine Geschichte mit Einblick in die Schweizer Dorfwelt. Yael Inokai studierte Philosophie in Basel und Wien; seit 2014 besucht sie den Studiengang Drehbuch an der Deutschen Film- und Fernsehakademie, Berlin. Für ihren Roman Mahlstrom wurde sie 2018 mit dem Schweizer Literaturpreis ausgezeichnet.

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