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»Am Brutkasten war ein Namensschild befestigt: Sofia Muratore. Der Vater besuchte es mehrmals am Tag. Erschöpft pendelte er verstört zwischen Frau und Tochter hin und her und fragte sich, wer von beiden für das Leid der jeweils anderen verantwortlich war.« Es ist ein wundervoller Roman mit einer außergewöhnlichen Technik, den Paolo Cognetti hier vorgelegt hat, der mich begeistert hat. 10 Kurzgeschichten, die eigentlich alleine stehen könnten, verwoben zu einem Roman, in dessen Mittelpunkt Sofia steht, eine Dreiecksverbindung Vater – Tochter – Mutter, ein Blick in die Spätsiebziger von Norditalien. Aber das ist es nicht allein, denn auch die verschiedenen Perspektiven sind durchdacht gewählt, sie passen sich der Sicht des jeweiligen Erzählers an. Distanziert personal und dicht in der Ich- und Du-Perspektive wechselt die Nähe und die Sprache. Wem »Alles ist möglich« von Elisabeth Strout gefallen hat, wird auch von diesem Roman begeistert sein. »Angenommen, ich würde jetzt ein Kind wolle, dann würd ich keinen Wert darauf legen, es mit einem hochintelligen Mann zu zeugen. Oder mit einem starken oder extrem fleißigen. Ich würde mir nur einen wünschen, der da ist, einen, von dem ich weiß, dass er nicht woanders ist, wenn ich ihn brauche.« Im ersten Kapitel berichtet eine Krankenschwester von ihrer Nachtschicht, in der ein Notfall eingeliefert wird, eine Frühgeburt im siebten Monat, und sie erklärt dem Leser, dass eine Geburt »ein Schiff ist, das in den Krieg fährt«. Die kleibe Sophia schrammt am Tode vorbei, der liebevolle Vater besucht sie jeden Tag am Brutkasten, hält ihr kleines Händchen. Die Mutter ist in eine Wochenbettdepression verfallen. Sie wird auch im späteren Verlauf immer wieder heftige Depressionsschübe haben. Die Mutter einsam mit dem Kind zu Hause, der Vater, der als einfacher Ingenieur bei Alfa Romeo in Mailand anfängt, sich fleißig bis in die Geschäftstage hocharbeitet, ist selten daheim. Eine gescheiterte bürgerliche Ehe, die aufrecht erhalten wird. Die Geliebte des Vaters, Emma, eine Kollegin, seine Liebe, verlässt den Mann irgendwann, weil sie weiß, er wird seine kranke Frau nie verlassen. Alfa Romeo vom Auto-Boom bis zu den großen Streiks, wird in seiner Geschichte plastisch angerissen. Sophia ist schon als Kind störrisch, sucht Aufmerksamkeit, provoziert. Als essgestörte Jugendliche unternimmt sie einen Selbstmordversuch, landet in der Psychiatrie. Dort will man Sofia schnell loswerden, da sie Tobsuchtsanfälle bekommt, das Personal aufs Höchste fordert. Tante Marta, eine Journalistin, nimmt sich ihrer an. Sie erinnert sich an ihre eigene störrische Jugend, ihre kommunistische, politische Vergangenheit, die während der aufgeheizten Jahre mit Straftaten gepflastert war, sodass sie das Land für ein paar Jahre verlassen musste. »Du schleppst deine zwei Identitäten mit dir herum, wie streitsüchtige Schwestern: ine zerrt an dr und will weiterkommen, während die andere die Absätze in den Boden rammt.« Vater – Tochter – Mutter, jeder sucht einen Weg zum anderen und kommt doch nie an, weil er gleichzeitig wegläuft. Ein feines Familiengeflecht der Verletzung und Selbstverletzung. Sofia ist einsam, denn eigentlich will sie einsam sein. Aber sie ist gleichzeitig die, deren Nähe alle Menschen suchen, die Lachende, die Ausschweifende, die Schauspielerin, die alle zum Lachen bringt, die nur in der Badewanne bei fast kochend heißem Wasser etwas fühlen kann. Sofia studiert in Rom, wohnt in einer Wohngemeinschaft und sie will Schauspielerin werden. Von Rom reist sie nach New York. Sofia mit den zwei Gesichtshäften. »Du bist wie ein Gas, sobald du die Möglichkeit dazu hast, breitest du dich aus. Deshalb muss ich Grenzen ziehen, verstehst du? Mann kann lernen, allein zu sein, sogar lernen, sich dabei wohlzufühlen.« Der allwissende Erzähler aus manchen Kapiteln outet sich am Ende, eine feine Idee. Mit großer erzählerischer Kraft und genau abgestimmten Kapiteln, die sich an manchen Stellen überschneiden, wird die Geschichte von Sofia erzählt, und ganz nebenbei die Geschichte der wichtigsten Personen um sie herum. Sofia verschwindet, wenn es ihr zu viel wird, dreht sich nicht um. Sie wird auch in diesem Buch verschwinden, ganz einfach so. Paolo Cognetti, 1978 in Mailand geboren, verbringt die Sommermonate am liebsten in seiner Hütte im Aostatal auf 2000 Metern Höhe. Er hat Mathematik studiert, einen Abschluss an der Filmhochschule gemacht. Bevor er sich dem Schreiben zuwandt, hatte er sich auf Dokumentarfilme spezialisiert. Für »Acht Berge« erhielt u.a. den renommiertesten italienischen Literaturpreis, den Premio Strega.