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gwyn

Posted on 17.5.2019

Der Anfang: »Mein Name ist Alice. Den Namen hat meine Mutter ausgesucht, wegen der Alice hinter den Spiegeln. Bekannter ist sie eigentlich aus Alice im Wunderland.« Dies ist ein grandioses Jugendbuch, Allage, das tief berührt, die Geschichte einer Befreiung, zu lernen Nein zu sagen. Aber bevor Alice sich befreien kann, muss sie in ein tiefes Loch fallen, von einem Gefängnis ins nächste wandern, bis sie den Mut hat auszubrechen. Man kann auch gefangen sein, ohne dass man es merkt: in einer Familie, in einer Beziehung, einer Gruppe. Alice wohnt im goldenen Käfig, in einer Villa mit Pool, und auf dem gleichen Gelände befindet sich die die düstere Protzvilla ihres Großvaters. »Und sah sofort aus wie die Rote Königin in diesem Film, in dem Johnny Depp den verrückten Hutmacher gespielt hatte. Gleich würde sie »Kopf ab!« zischen und nach ihren Dienern rufen.« Ihre Mutter, eine elegante Schauspielerin ohne Job, denn als Hausfrau kann man sie nicht bezeichnen, sie beschäftigt sich mit Shopping in feinen Geschäften und Maniküre, eine beeindruckende Frau, eine die Alice auf Schritt und Tritt bewacht. Der Vater ist Architekt; sein Vater, der Nachbar, schwerreich. Aber was nützt alles Geld, wenn man steril gehalten wird, begluckt, als sei man aus feinstem Glas? Alice hat keine Freunde, sie weiß auch, dass der Umgang mit einer gewissen Gesellschaftsschicht verboten ist. Völlig isoliert und unglücklich wehrt sich ihr Körper mehr oder weniger durch Dauerkrankheit. Husten, Schnupfen, Ohrenentzündung, Allergien, irgendetwas rumort dauernd in ihrem Körper und manchmal fehlt sie in der Schule. Alice, eine gute Schülerin wird in der Schule deswegen gemobbt. Die fiese Rosa hat gegen die Bazillenschleuder Alice immer Desinfektionstücher dabei. Doch dann geht eines Tages in der Schule die Sonne auf, der Name ist Nico! Ein Typ, auf den die Mädchen stehen, hübsch, lässig, er kommt und geht, wann er will, denn er ist ja kein Frühaufsteher und er kann wundervoll zeichnen und Geschichten erzählen, von Abenteuerreisen mit seinem Vater. »Ich weiß nicht, Alice. Es ist ein hohes Risiko mit deiner zarten Konstitution …« Ich konnte das nicht mehr hören. Immer wieder kam dieses Thema auf, und jedes Mal fühlte ich mich sofort gefangen wie ein Insekt, das man in ein Marmeladenglas gesteckt und dann die Luftlöcher vergessen hatte.» Und dieser Typ interessiert sich ausschließlich für Alice! Er überredet sie, an einer Klassenreise teilzunehmen, auch noch zelten. Kommt gar nicht in Frage, sagen die Eltern … doch Alice setzt sich erstmals durch und ist natürlich bereits beim Zeltaufbau krank. Nico und Alice werden ein Paar, und entschließen sich, gemeinsam durchzubrennen. Ein Sommer der Freiheit, doch allein von Luft und Liebe kann man nicht leben. Sie wohnen mit anderen jungen Leuten in einer WG des Nichtstuns und dieses Leben ist der Himmel für Nico. Alice stellt fest, er verändert sich. Aber auch Alice verändert sich, wird selbstbewusster und sie ist nicht mehr krank, trotz Kälte und feuchter Räume. »Mutter wittert Gefahr, der Vater Kontrollverlust. Die einzige Kontrolle, die er hier ausüben kann: über Kind und Frau. Die einzige Kontrolle, die die Frau ausüben kann: über sich und das Kind. Derjenige, der alle Fäden in Händen hält, ist nicht dabei. Das ist auch gar nicht nötig. Seine Macht ist in diesem Haus allgegenwärtig.« 24 Spiegelscherben, 24 Kapitel - ein Coming of Age, Abstreifen der Familie, Abstreifen von Macht, die unterdrückt. Alice kämpft nicht, sie streift ab, wie eine Zwiebel häutet sie Schicht um Schicht. Alice fungiert sich selbst als Resonanzboden, teilt dem Leser die eigenen Gedanken mit. Es gibt aber auch einen zweiten Erzähler, kurze Segmente, kursiv eingefügt: Ein Helfer steht auf Abruf. Diese Stimme beobachtet Alice, und sagt, sie sei zur Stelle, wenn Alice dazu bereit sei … »noch nicht tief genug, um mich zu rufen.« Zuhause regiert der Großvater, der die Eltern antanzen lässt, beschimpft, seinen Sohn erniedrigt und gleichzeitig mit den Geldscheinen wedelt: Ohne mich hättet ihr nichts, wäret ihr Niemand. Seid dankbar, kriecht vor mir auf dem Boden! Der Vater von Alice ist ohnmächtig gegen den eigenen Vater, doch er lässt seine Frau springen, die abgehalfterte Schauspielerin und Shoppingqueen. »Ich stand auf der Schwelle dessen, was zuvor mein Zuhause gewesen war. Oder eben nicht. Aber das alles hier, das war, was ich kannte. Was mich begleitet hatte. Nicht wie ein guter Freund, aber wie ein verlässlicher Bekannter. Ein manchmal wirklich bescheuerter verlässlicher Bekannter. Und manchmal ein grausamer Fremder. Sobald ich meinen Fuß über diese Schwelle setzte, war das alles vorbei. All die schmerzhaften Dinge hätten ein Ende. Meine Angst. Meine Sicherheit. Egal.« Unten in der Reihe steht Alice, über die die Glashaube gehalten wird. Sie tritt sie ein. Hinaus in die Freiheit ... was sie nicht ahnt, sie wird die Glashaube lediglich wechseln. Zu ihrer Mutter hält Alice losen Kontakt, nachdem sie von zu Hause abgehauen ist, sie trifft sich sogar mit ihr. »Sie ließ mich widerstandslos gehen. Das war ein großer Liebesbeweis, aber das verstand ich erst viel später.« Alice genießt ihre Liebe, ihre Freiheit, braucht eine Weile zu begreifen, dass dieser Weg nicht die ihre ist, sondern, dass sie wieder fremdbestimmt wird, dass wieder Gewalt in ihr Leben eintritt. Wie sie das hasste: Gewalt! War es nicht genau das, was Alice und Nico in ihren Familien so tief verabscheuten? Was ist los mit Nico? Und will er sein Leben lang einfach herumhängen? Eine weitere Glashaube ist Alice aufgesetzt worden. Der Roman ist in einer Zwiesprache geschrieben, Alice mit sich, aber auch im Gespräch mit dem Leser, dicht an der Protagonistin, ein Stoff, der ans Herz geht. Die Protagonistin erarbeitet sich durch Selbstreflexion was schief läuft. Und sie packt es an, als die Last zu schwer wird – und auf diese Situation hatte der Helfer gewartet. Alice braucht ein wenig Zeit, um zu begreifen, dass dieser Helfer in jedem selbst schlummert. Doch das allein macht den Roman nicht aus, es ist die Sprache, die berührt. Julya Rabinowich schafft es literarisch zu schreiben, ohne den Focus auf ihre Zielgruppe zu verlieren. Ein Jugendbuch erster Sahne. »Meine Geheimnisse wurden schwer wie ein Sack Steine, die um meinen Hals gebunden worden waren und mich nun langsam und in vollkommener Stille in die Tiefe eines Eismeeres zogen, ins ewig Finstere, vorbei an wunderlichem Meeresgetier, das in dieser Dunkelheit gewohnt war zu leben. Ich aber nicht. Ich nicht. Nein. Ich wollte das nicht.« Julya Rabinowich, geboren 1970 in St. Petersburg, lebt seit 1977 in Wien, wo sie auch studierte. Sie ist als Schriftstellerin, Kolumnistin und Malerin tätig sowie als Dolmetscherin. Ihr Roman »Spaltkopf« wurde u.a. mit dem Rauriser Literaturpreis ausgezeichnet, »Herznovelle« war für den Prix du Livre Européen nominiert, Mit »Dazwischen: Ich«, veröffentlichte sie bei Hanser 2016 ihr erstes Jugendbuch. Es wurde u. a. mit dem Friedrich-Gerstäcker-Preis, dem Österreichischen Kinder- und Jugendbuchpreis und dem Luchs (Die Zeit & Radio Bremen) ausgezeichnet sowie unter die Besten 7 Bücher für junge Leser (Deutschlandfunk) gewählt.

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